Ende des Kriegs als schönster Moment im Leben: 100-jähriger Lübbecker blickt zurück

Lübbecke. Während in der Silvesternacht die Feuerwerkskörper in den Himmel und die Korken aus den Sektflaschen geschossen wurden, um ein neues Jahr zu begrüßen, begann für Erwin Waßmann mehr als ein neues Jahr. Mit Anbruch des Neujahrstages vollendete sein Leben ein ganzes Jahrhundert. Ob er ein bisschen aufgeregter oder festlicher gestimmt gewesen sei, als vor anderen Geburtstagen? &bdquo;Nein,“, winkt er ab, &bdquo;das ist ein Geburtstag wie jeder andere, nur dass er eben zwei Nullen hat.“ Aber seine Familie habe den Geburtstag gerne als Anlass für eine Feier genommen, sagt er humorvoll in Richtung seiner Tochter Bärbel, die die Geburtstagsfeier ausgerichtet hat. Ihre Wohnung liegt nahe des Pflegeheimes, das ihr Vater vor einigen Jahren auf eigenen Wunsch hin bezogen hat. Umgezogen, um in der Nähe seiner Frau zu sein Damals sei er hierher gezogen, um weiterhin in der Nähe seiner Frau sein zu können. Ihre Demenzerkrankung war ein schwerer Einschnitt im Leben der Familie und machte den Umzug seiner Frau damals notwendig. &bdquo;Demenz ist eine schreckliche Krankheit. Sie nimmt den Menschen ihre Vergangenheit“, sagt Erwin Waßmann, dessen Verstand auch im Alter von 100 Jahren noch hellwach und klar ist. Vor zwei Jahren verstarb seine Frau Anneliese, aber ihr Mann hat sie und das gemeinsame Leben detailreich und lebendig vor Augen. Die Gnadenhochzeit haben die beiden im Kreis der Familie gefeiert, wenn auch nicht mehr ganz so groß, wie die vorigen runden Hochzeitstage. Geheiratet haben sie im Jahr 1946. Bevor Erwin Waßmann für die letzten drei Kriegsjahre eingezogen wurde, haben sie sich nur flüchtig gekannt, nach seiner Rückkehr in die Heimat trafen sie sich wieder. Das Ende des Zweiten Weltkrieges sei der schönste Moment seines Lebens gewesen, sagt er heute. Darüber habe er nachgedacht, nachdem ihn einmal jemand danach gefragt habe. &bdquo;Da begann das Leben neu!“, sagt er. Heute schaut er auf viele glückliche Momente zurück, aber das Kriegsende habe sie ja erst möglich gemacht, erklärt er. Neben seiner Ehefrau Anneliese bereicherten vor allem die drei gemeinsamen Kinder Ingelore, Bärbel und Kurt sein Leben. Inzwischen ist er außerdem stolzer Opa, Ur- und Ururgroßvater vierer Enkel, dreier Urenkel und einer kleinen Ururenkelin. Voller Stolz und Wärme erzählt er von ihren regelmäßigen Besuchen bei ihm in Lübbecke. Familienglück ist nicht selbstverständlich Dass gemeinsame Zeit ein hohes Gut und Familienglück keine Selbstverständlichkeit sind, musste er schon in frühester Kindheit schmerzlich erfahren. Als Erwin Waßmann zweieinhalb Jahre alt war, verstarb sein Vater. Seine Mutter und Großmutter zogen ihn und seine beiden Schwestern auf. Ein bisschen Landwirtschaft, ein paar Schweine, Ziegen und Hühner ernährten die Familie. Geprägt hat seine Kindheit auch die direkte Nähe zur Freilichtbühne in Nettelstedt. &bdquo;Das ganze Dorf hat dort mitgespielt“, sagt er und erinnert sich daran, bei einer Aufführung auch eine seiner Ziegen zum Komparsen gemacht zu haben. Was in seinem Leben stets einen besonders hohen Stellenwert hatte, ist die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Ob es die Familienfeiern sind, auf die er immer großen Wert gelegt hat, die glückliche Ehe mit seiner Frau, die sich nie auseinanderlebte, sondern nach dem Renteneintritt noch einmal aufblühte oder die Freundschaften, die ein Leben lang hielten. Im Alter von 85 Jahren fuhren Erwin Waßmann und seine Schulfreunde noch mit dem Auto an den Dümmer See, um dort Räucheraal zu essen und machten Ausflüge zum Kaffeetrinken. Die Rentenjahre seien wohl seine glücklichsten gewesen, sagt er rückblickend. Mit seiner Frau unternahm er viele Reisen und genoss die neugewonnene Freiheit, wenngleich er auch seinen Beruf als Netzmonteur bei RWE gerne ausgeübt hat und die Debatten um Stromversorgung und Energieerzeugung bis heute aufmerksam und kritisch verfolgt. Als &bdquo;junger Rentner“ schrieb er gelegentlich Leserbriefe zu diesen Themen und seit sein Sehvermögen ihm das Lesen der Neuen Westfälischen nicht mehr möglich macht, nimmt er an den Leserunden in der Pflegeeinrichtung teil. Das ist seine besondere Erkenntnis Dabei haben ihn im vergangenen Jahr insbesondere die Nachrichten aus der Ukraine sehr betroffen gemacht. Als junger Mann war er während des Zweiten Weltkrieges selbst in Mariupol stationiert, machte dort sogar seinen Führerschein. Neben all dem Leid, das er dort miterlebt hat, hat er für sich in dieser Zeit eine besondere Erkenntnis gewonnen: Dass jeder einzelne Mensch seine Entscheidungen eigenverantwortlich trifft und dass selbst in den schlimmsten Zeiten jeder wenigstens etwas Einfluss nehmen kann auf das, was in seinem Umfeld passiert. &bdquo;Der Mensch besteht aus Seele, Geist und Leib. Und jeder ist verantwortlich dafür, wie er sie einsetzt“, sagt er. Das Vertrauen in das Gute im Menschen stärkte auch sein tiefer Glaube. Wenn er an die Zukunft denkt, dann ist für ihn klar: &bdquo;Man kann so etwas natürlich nicht planen. Aber ich warte ganz bewusst auf den einen Moment, heimzugehen.“ Denn dann, so ist er sicher, geht er auch heim zu seiner geliebten Frau.

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