Nach Übergriffen beim Blama: „Grapscher üben Macht aus“

Herr Steinmeyer, in diesem Jahr hat die Polizei von auffällig vielen sexuellen Übergriffen auf Frauen zwischen 19 und 35 Jahren während des Blasheimer Marktes berichtet. Vier Vorfälle gegenüber einem im vergangenen Jahr. Gab es mehr Fälle, oder einfach mehr Anzeigen?RALF STEINMEYER: Wir haben mittlerweile fünf Anzeigen. Ob diese Steigerung daran liegt, dass wir es mit mehr Tätern zu tun haben, oder ob das Anzeigeverhalten sich verändert hat, können wir nicht beurteilen. Aufgrund der Einführung des Paragrafen 184i, sexuelle Belästigung, im November 2016 glauben wir letzteres. Hintergrund waren die bundesweiten Übergriffe in der Silvesternacht, bei denen Köln herausstach. Man hatte festgestellt, dass es für Grapschen keine richtige gesetzliche Grundlage gab. Zwischen einer sexuellen Beleidigung und einer sexuellen Nötigung, bei der deutlich mehr Gewalt angewendet wird, gab es nichts. Also nichts für dieses in den Po kneifen, für dieses Umarmen, das ungewollte Küssen, was man sich alles in keiner Weise gefallen lassen muss. Deshalb ist dieser Paragraf eingeführt worden. Wir haben es bei diesen fünf Fällen zum Blasheimer Markt mindestens bei dreien mit dieser Stufe zu tun. Zwei könnten in den Bereich der sexuellen Nötigung fallen. Das Grapschen steht in dem neuen Paragrafen unter Strafe. Das hat zu einer Welle von Anzeigen bundesweit geführt, weil Frauen gesagt haben, das lasse ich mir auch nicht gefallen. Es werden also Dinge angezeigt, die vorher nicht anzeigewürdig erschienen.BIRGIT THINNES: Wenn sie früher durch die Stadt gegangen sind oder ihnen im Kaufhausgedränge jemand ans Hinterteil gefasst hat, haben viele Frauen nur gedacht, das ist unangenehm. Und viele Männer haben nach einer Ausrede gesucht, etwa, es ist so voll hier. Heute ist klar, da ist eine Grenze überschritten. Die war damals auch überschritten, aber heute ist den Frauen eher klar, dass das eine sexuelle Belästigung ist und die dürfen sie anzeigen. Und wir stellen fest, dass mehr Anzeigen eingehen. »Deutlich machen: Du hast meine Grenze verletzt« Was macht denn eine angegrapschte Frau, sagen wir im Bus – der Täter wird ja nicht freiwillig mitkommen zur Polizei?THINNES: Wenn ich in Begleitung bin, kann ich den Täter festhalten. Ich kann auch den Busfahrer ansprechen.STEINMEYER: Ich kann mit dem Handy sofort den Notruf wählen. Wenn es möglich ist, mache ich ein Foto von dem Täter. Natürlich mit Vorsicht, denn das kann zu weiteren Angriffen des Täters führen.THINNES: Ich muss ja nicht jeden Vorgang gleich anzeigen, sondern es geht erst einmal darum, die Situation zu lösen. Eine Lösung kann sein, dass ich den Täter anschreie, ihn schubse oder sonst was mache. Also deutlich machen: Du hast meine Grenze verletzt – Ende. Gab es bei den Blama-Übergriffen Gemeinsamkeiten?STEINMEYER: Es gab keinen Übergriff aus Gruppen heraus. Wir haben es mit verschiedenen Tätern zu tun. Die Vorfälle passierten zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten. In zwei Fällen, in denen mehr Gewalt angewendet wurde, waren die Frauen auf dem Heimweg und nicht mehr auf dem Gelände. Die anderen drei auf dem Marktgelände waren typische Grapscherfälle. Der Markt ist aber nicht unsicherer geworden, er war unauffällig wie immer. Wie haben sich die betroffenen Frauen verhalten?STEINMEYER: Es gibt zwei Fälle, die sind beispielhaft für das, was Frau Thinnes gerade gesagt hat. Es gibt einen etwas schwerwiegenderen Fall. Da ist eine Frau angegangen worden von einem Einzeltäter. Die hat sich verbal zur Wehr gesetzt und gesagt: Lassen Sie das, ich will das nicht! Der Verdächtige hat sich aber nicht entfernt, sondern ist weiter neben ihr hergegangen und hat auf sie eingeredet. Daraufhin hat die Dame lautstark gerufen.THINNES: Das ist das, was wir in unseren Selbstbehauptungskursen vermitteln. Es kann natürlich sein, dass der Täter sagt ,Ist mir doch egal und sie weiter belästigt. Dann wäre der nächste Schritt, laufen, schreien, Hilfe organisieren.STEINMEYER: In diesem Fall hat das funktioniert, denn eine Gruppe von drei jungen Männern ist aufmerksam geworden. Die sind hingeeilt, und der Täter hat dann die Flucht ergriffen. Ein klassisches Beispiel für Frau Thinnes’ Arbeit.THINNES: Das war vorbildlich, da hat alles gepasst. Die Frau hat gerufen, und die Leute haben sie unterstützt. Ob der Täter bestraft wird oder nicht, steht für viele Opfer gar nicht im Vordergrund. Die Situation ist gelöst, und sie sind raus. Sie haben dann das Gefühl: ,Ich habe alles richtig gemacht, und ich habe es geschafft. Auf dem Blasheimer Markt ist es relativ einfach, Hilfe zu organisieren, weil da viel los ist. Aber was mache ich, wenn ich zum Beispiel auf einer unbelebten Strecke im Großen Torfmoor jogge oder im Wald?THINNES: Schreien, kämpfen. Den Tätern geht es letztlich darum, Opfer zu finden. Und wenn sich jemand wehrt und laut wird, dann ist das kein Opfer mehr, sondern ein Gegner. Sexualtäter haben häufig ein geringes Selbstbewusstsein. Wenn die merken, hier komme ich nicht weiter, das ist nicht das Opfer, das ich suche, dann lassen sie davon ab. Wer sich wehrt, hat gute Chancen, da rauszukommen. Auch wenn die Frau kleiner und zierlicher ist als der Täter?THINNES: Gut, wenn der mich festhält, muss ich mir was anderes überlegen. Dann muss ich ihn vielleicht, anspucken, anschreien, vors Schienbein treten oder sonst was machen, damit der Griff lockerer wird. Gibt es ein typisches Opferverhalten, Körperhaltung oder Mimik, die jemanden als potenzielles Opfer erscheinen lassen?THINNES: Wir geben den Tipp, sich groß zu machen und gerade zu gehen. Andersherum kann ich nicht sagen, wer das nicht macht, wird auf jeden Fall angegriffen. Aber ich gebe den Tipp, deutlich zu machen: Mit mir nicht. Und auf das Bauchgefühl zu achten, wenn mir etwas komisch vorkommt, dann vielleicht einen anderen Weg wählen. Das soll aber nicht heißen, dass ich im Dunklen nicht mehr rausgehe, weil ich eine Frau und ein potenzielles Opfer bin. Auf gar keinen Fall. Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer. Sie können allein nach draußen gehen und feiern, alles genau so machen wie die Männer. »Täter gucken nicht nach Aussehen und Kleidung« Im Sommer tragen manche jungen Frauen Kleidung, die mehr zeigt, als sie verdeckt. Führen Täter das als Entschuldigung an?THINNES: Das wird in der Gesellschaft gesagt, erstaunlicherweise oft von Mädchen. Wenn die hören, dass einem Mädchen etwas passiert ist, wird schnell gesagt: Wie die auch immer rumläuft. Untersuchungen zeigen aber, dass Täter gar nicht nach dem Aussehen und der Kleidung gucken. Sexualdelikte haben viel mit Macht zu tun. Der Täter nutzt die Sexualität, weil er damit die andere Person erniedrigen kann. Das Gefühl, Macht über andere auszuüben, hält aber nicht ewig. Heißt das, Sexualtäter sind Wiederholungstäter?THINNES: Wir dürfen nicht pauschalisieren. Nicht jeder Sexualtäter hat ein geringes Selbstbewusstsein. Aber es ist richtig, dass Sexualtäter Wiederholungstäter sind. Es gibt Täter, die allein deshalb zu Volksfesten gehen, weil sie wissen, da ist es voll, da ist Körperkontakt möglich und da kann ich andere angrapschen, ohne dass gleich klar ist, ich mache das absichtlich. Was wissen Sie über die Täter vom Blasheimer Markt?STEINMEYER: In den schwereren Fällen sind sie unbekannt. Es gibt vage Beschreibungen, die geben aufgrund der Dunkelheit und der Stresssituation aber nicht viel her. Das kann man von einem Opfer auch nicht verlangen. In den Grapscherfällen sind uns die Tatverdächtigen bekannt, gegen sie wird ermittelt. Sie sind noch nicht vernommen worden, denn es sind Vorladungsfristen zu beachten. Deshalb können wir zu Tätern und Motiven noch nichts sagen.THINNES: Man wird auch erst Zeugen vernehmen, damit man weiß, was man den Tätern vorwerfen kann. Kann eine Frau weiter allein zum Blama gehen?THINNES: Auf jeden Fall. Ich würde mich nie einschränken aus Angst, dass ich angegrapscht werden könnte. Es gibt aber interessierte Kreise, die genau das verbreiten: Wir können unsere Frauen und Töchter abends nicht mehr allein vor die Tür lassen, weil die Straße nicht sicher ist.THINNES: Das sind Stammtischparolen, denen ich deutlich widerspreche. Fakt ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, ist sehr gering. Typische Tatorte sind eher Arbeitsplatz, Party, Ehebett.STEINMEYER: Es gibt keinen Bereich im Kreis Minden-Lübbecke, in dem Frauen nicht das das Gleiche wie Männer tun können. Es gibt keine No-Go-Areas und keine Veranstaltung, die eine Frau nicht allein besuchen kann.

Meistgelesen