Pulverfabrik Liebenau: Wald-Idyll mit mörderischer Geschichte

Liebenau. Hinter dem Zaun wächst es prächtig. Blumen säumen die Wege, teils mächtige Bäume bilden einen dichten Wald. Zwischendurch kreuzen Rehe die Betonstraßen und Bahngleise. Ein idyllisches Bild. Aber nur auf den ersten Blick. Beim zweiten Blick sieht man die Produktionsgebäude und Bunker. Nach und nach, immer mehr. Vom Werkszaun aus ist nicht eines zu sehen. Rund 400 Gebäude gehören zur früheren Pulverfabrik in Liebenau an der Weser. Die einst an die Bahnlinie Rahden-Nienburg angeschlossene Anlage mit dem Decknamen "Karl" gehörte zu den größten Rüstungsanlagen während der Nazi-Zeit. Zwangsarbeiter erlebten dort brutalste Behandlung, die Vernichtung durch Arbeit. Dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte arbeitet der Verein Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau auf - auch mit einer sehr aktiven Jugendgruppe. Der Verein hat frühere Zwangsarbeiter nach Liebenau eingeladen und organisiert Begegnungen mit Deutschen. Die Gruppe um Geschäftsführer Martin Guse hat schon sehr viel für die Aufarbeitung und Versöhnung zwischen Menschen geleistet. Viel Arbeit liegt aber noch vor ihm. 2.000 Menschen verhungerten oder wurden umgebracht Ab 1938 auf einem Höhenzug zwischen den Ortschaften Liebenau und Steyerberg errichtet, mussten hier bis 1945 rund 20.000 Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen Pulver herstellen, das die Wehrmacht für Patronen, Granaten und sonstige Geschosse brauchte. Rund 2.000 Menschen bezahlten diese gefährliche Tätigkeit mit ihrem Leben. Sie wurden ermordet, sie verhungerten. Sie starben bei Explosionen oder wegen der Arbeit mit den gefährlichen Chemikalien. Was heute auf den ersten Blick durch eines der Werkstore in den Wald so idyllisch anmutet, ist in Wirklichkeit ein Ort mit mörderischer Geschichte. Die "Anlage Karl" ist ein Beispiel für das menschenverachtende System der Nazis und auch ein Beispiel dafür, wie die Nazis den Versailler Vertrag ignorierten. Die Aufrüstung sei Hitlers oberstes Ziel gewesen, sagt Martin Guse. Das geschah verdeckt, der Staat tauchte offiziell nicht als Produzent von Kriegsgütern auf. Bauherr der Anlage "Karl" war ab 1938 das Oberkommando des Heeres (OKH). Errichtet wurde die Anlage von der im Rüstungsgeschäft erfahrenen Firma Wolff & Co. aus Walsrode. Bei Wolff & Co. war ab 1926 die IG Farben mit einem beträchtlichen Anteil beteiligt - und während des Krieges war Max Ilgner ein wichtiger Mann in der Leitung des Chemiekonzerns IG Farben. Jener Max Ilger, der von der amerikanischen Besatzungsbehörde 1945 wegen Raub und Plünderung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde und ab 1948 für die evangelische Kirche in der ehemaligen Heeresmunitionsanstalt das heutige Espelkamp aufbaute. Vom OKH wurde die riesige Liebenauer Anlage in die Verwaltung der "Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie übergeben. Von der Montan pachtete es die Eibia GmbH, eine Tochter von Wolff & Co. Rechtsnachfolger der "Montag GmbH" war nach dem Krieg die Industrieverwertungsgesellschaft (IVG), die bis Mitte der 1980er Jahre komplett dem Bund gehörte. Die IVG, merkt Martin Guse an, sei nicht sonderlich interessiert an der Aufarbeitung der Geschichte der Pulverfabrik gewesen. Die neuen Besitzer des Areals, die seit Februar dieses Jahres den Wald bewirtschaften wollen und dafür auch die vorhandenen Gleisanlagen nutzen möchten, seien offener - auch was Besichtigungen angeht. "Klein-Italien" und Straflager der Gestapo Ab 1941 wurden in Liebenau verschiedene Pulver für die unterschiedlichsten Geschosse hergestellt. Die Anlage ist kaum vorstellbar groß: Auf 12 Quadratkilometern gab es bis zu 400 Bunker und Produktionsgebäude, 21 davon unterirdisch. Bestens getarnt waren die Bauten durch Bepflanzungen auf den Flachdächern. Baumwuchs auf dem Beton sollte die Anlage "Karl" für Flieger unsichtbar machen. Erschlossen wurde die Anlage mit mehr als 80 Kilometern Straße und mehr als 40 Kilometern Gleis. Die Schienen zweigten von der Bahnstrecke Rahden-Nienburg ab, die Anlage hatte aber auch einen eigenen Hafen an der Weser. Rund 200 Kilometer Leitungen für Strom und Licht wurden gezogen. Zwei Kraftwerke versorgten die Pulverfabrik, ein drittes gab es als Reserve. Der hohe Grundwasserspiegel war nützlich, merkt Martin Guse an. Es habe geheißen, dass die Pulverfabrik in Liebenau mehr Wasser verbraucht habe, als die Hansestadt Bremen inklusive deren Industriebereiche. Es gehe um die NS-Zeit und die vergessenen Opfer, sagt Guse. Die hermetisch abgeriegelte frühere Pulverfabrik war teilweise in Vergessenheit geraten. Manchen war das durchaus recht. Als der Verein seine Arbeit aufnahm, sei er von einigen auch als Nestbeschmutzer bezeichnet worden, sagt Guse. Auch zu seiner Schulzeit im Ort sei das Thema tabu gewesen, im Unterricht sei der Nationalsozialismus schnell abgehandelt worden. Das hat sich mittlerweile geändert, der Verein holt Opfer aus der Anonymität. Er gibt Opfern ihre Namen und damit auch ihre Würde wieder. 500 Polen und 800 Slowaken waren die ersten, die nach Liebenau kamen - anfangs noch gelockt mit Versprechungen. Dann folgten 1.000 Männer aus dem zunächst noch mit dem Reich verbündeten Italien. "Klein-Italien" habe es in Liebenau gegeben, sagt Guse. Die Liebenauer hätten Chianti und Spaghetti kennen gelernt. Als Italien 1943 das Bündnis mit dem Deutschen Reich verließ, wurden die Italiener über Nacht zu "Verrätern" und zur Zwangsarbeit herangezogen. Es sind so viele Punkte, die der Verein zusammengetragen hat und damit das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte dokumentiert. Ab etwa 2021 wird er das in einer Gedenkstätte unweit der früheren Pulverfabrik tun - in der jetzigen Hauptschule Liebe-nau, die ausläuft. Und an diesem Ort zeigen, dass diese scheinbare Wald-Idylle hinter dem Zaun für viele Menschen den Tod bedeutete. Der Verein wird auch daran erinnern, dass an der Stelle der jetzigen Schule 1940 eines der reichsweit ersten Arbeitserziehungslager der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) stand - mit unvorstellbarer Brutalität gegenüber den Gefangenen. Initiiert übrigens von der Firma Wolff & Co. Aber das ist eine weitere Geschichte.

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