Sicherheitsexperte: "Es gibt für den Westen keine Zukunft mit Putin"

Herr Mölling, hat es Sie als Experten auch erschreckt, das im 21. Jahrhundert so nah vor unserer Haustür ein derartiger Angriffskrieg passiert?Christian Mölling: Da leiden wir unter einem Cassandra-Komplex. Dass Russland kein Freund mehr ist, das wussten wir spätestens seit 2014. Andere wussten das seit 2008 und haben uns gewarnt und gesagt 'schaut hin!'. Damals hat Deutschland abgewunken. Dann überfällt Putin die Krim und die Ostukraine - und wir winken weiterhin ab. Und sagen 'nein, nein, das war nur ein Ausrutscher'. Mal gucken, welche Ausrede Deutschland nun findet. Denn, ja, Herr Scholz hat eine interessante Sonntagsrede gehalten. Die muss aber am Montag implementiert werden, dann fängt die Arbeit an. Ich bin zwar überzeugt, dass Olaf Scholz das meint, was er sagt. Aber wir leben ja in einer Demokratie. Einer parlamentarischen Demokratie. Er muss also seine Partei nicht nur hinter sich sammeln, sondern sie da auch lassen. Das ist aktive Arbeit. Ich glaube nicht, dass die SPD in allen Zügen davon überzeugt ist, wie Deutschland reagiert. Letztlich hat Olaf Scholz auf den internationalen Druck reagiert, den er bekommen hat. Hat Sie der Angriff Putins überrascht?Nein, hat er nicht. Putin hat in seiner Rede am 22. Februar ganz klar gesagt, dass er die Ukraine von der Landkarte nehmen möchte. Ich hätte allerdings erwartet, dass Putin keine große Offensive startet. Weil erst die den Westen dazu gezwungen hat, den Sanktionsknopf zu drücken. Und zwar richtig. Ich hatte erwartet, dass Putin zuerst das Separatistengebiet einnimmt und dann Schritt für Schritt vorwärts rückt gen Westen. Das hat er bislang immer so gemacht. Warum das Risiko in Kauf nehmen, dass Sanktionen hochgefahren werden? Wenn er unterhalb der Schießkriegsschwelle geblieben wäre und sich ganz langsam die Ukraine einverleibt hätte - dann wäre innerhalb der NATO und der EU nur schwer eine Einheit herzustellen gewesen. Und Deutschland hätte nicht diesen Schritt gemacht, den es jetzt macht. Dieser Weg Putins war so nicht notwendig. Offenbar eine Fehleinschätzung - so etwas passiert. Aber die Folgen sind natürlich dramatisch.Heißt das, Putin hat sich verschätzt und gedacht, das Land in kürzester Zeit eingenommen zu haben?Davon ist auszugehen. Noch eine Fehleinschätzung. Einige Kollegen erklären das aus seiner chauvinistischen Perspektive. Das sind Ukrainer, die können eh nichts. Warum sollten sie dann Krieg können können? Aber es ist ja nicht selten der Fall in der Geschichte, dass zahlenmäßig unterlegene Heere aufgrund der Moral der kämpfenden Soldaten gewinnen.Glauben Sie denn an ein gutes Ende im Ukraine-Konflikt? Immerhin gibt es zwischendurch Verhandlungen...Was ist denn ein gutes Ende? Die Verhandlungen sind doch letztlich Show. Wenn Putin seine Worte ernst meint, dann gibt es nichts zu verhandeln. Es sei denn, die Ukraine möchte die Kapitulation anbieten. Ansonsten ist das möglicherweise von beiden Seiten eine PR-Nummer, weil alle zeigen wollen, dass sie verhandeln. Doch wenn sie verhandeln, macht es Sinn, für den Zeitpunkt der Verhandlung eine Waffenruhe zu vereinbaren. Aber ehrlich gesagt, wie sollen die Ukrainer einem russischen Machthaber vertrauen, der im Grunde alle Elemente für Vertrauen abgefackelt hat? Würden Sie von dem noch eine Versicherung kaufen?Ich? Nein. Aber ich hätte sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr gekauft.Eben. Sie hätten schon längst gekündigt. Die Politiker nicht. Das ist, glaube ich, in Teilen der deutschen Politik ein Fall von unbeantworteter Liebe. Wir haben das Nein, den Korb, den Putin uns gegeben hat, einfach nicht verstanden. Und es ist auch jetzt noch für einige eine toxische Beziehung, die hier eingegangen worden ist, etwa Gerhard Schröder.Unterstellen Sie den Deutschen oder der Deutschen Regierung ein bisschen fehlende Menschenkenntnis?Ich glaube eher, man wollte es nicht sehen. Weil die Politik ein anderes Idealbild hatte und dieses Idealbild nicht ausreichend herausgefordert worden ist. Es brauchte jetzt den Krieg und den russischen Präsidenten, um Deutschland dazu zu bringen, alle Versprechen, die wir unseren NATO-Partnern und europäischen Partnern im Bereich Verteidigung gemacht haben, einzulösen. Das hat keiner der amerikanischen Präsidenten geschafft. Alles gute Zureden hat bei Deutschland nichts genutzt. Das ist schon erstaunlich. Zum einen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Zum anderen eine besondere Interpretation deutscher Geschichte. Nämlich zu sagen, die einzig erlaubte Schlussfolgerung aus dem Zweiten Weltkrieg ist, nie wieder Krieg. Von deutschem Boden darf auch nie wieder ein Angriffskrieg ausgehen - das ist in Ordnung. Aber daraus abzuleiten, dass sich Deutschland nie wieder auf irgendeine Seite stellen darf, ist falsch. Das würde bedeuten, wir lassen auch die Schwachen, die angegriffen werden, alleine. Es hat tatsächlich lange gedauert, bis wir umgeschwenkt sind. Die Gelegenheit hatten wir schon 2014 in der Ukraine und auch in Syrien - aber da hatte es für Deutschland keine Relevanz.Welche Rolle muss Deutschland denn nun übernehmen?Wenn ich die historische Dimension verlängere, dann haben wir die Lehre aus der deutschen Geschichte falsch interpretiert. Verantwortung sieht anders aus. Das heißt, dass wir in der Tat mehr aktive Verantwortung übernehmen müssen. Praktisches Beispiel: Gehen wir mal davon aus, dass die Ukraine diesen Konflikt als Territorialstaat nicht überlebt. Dann ist es unsere Aufgabe, die Exilregierung hier aufzunehmen. Und wenn die Ukraine überstehen kann, dann ist es unsere Aufgabe, an vorderster Front diesem Land zur Hilfe zu stehen. Nicht nur mit Geld. Die Argumentation in Deutschland war ja, wir haben der Ukraine schon zwei Milliarden Euro gegeben. Das ist ein Rückfall in Genschers Zeiten. Das ist Scheckbuch-Diplomatie. Natürlich ist diese Hilfe wichtig gewesen. Aber in der Situation der akuten Kriegsgefahr zu sagen, wir haben doch schon Geld gegeben, das geht nicht so ganz.Somit sind für Sie die Waffenlieferungen in Ordnung?Die Waffenlieferungen waren das einzige, was noch möglich war. Da sind wir aber in guter Gesellschaft. Ja, wir haben sehr spät geliefert, aber die anderen waren auch nicht sehr viel früher. Es haben ja weder die Nato-Staaten noch die europäischen Staaten die Ukraine systematisch aufgerüstet. Was aber eigentlich nach 2014 notwendig gewesen wäre. Aber Waffen alleine sind es nicht. Das ist auch so eine deutsche Eigenart. Wir konzentrierten uns dann nur auf die Waffen und den Schießkrieg. Ja, es gibt derzeit Krieg. Aber der Konflikt hat lange vorher begonnen.Vielleicht noch mal zu Ihrer Frage zurück, wie das Ganze endet. Das endet nicht mehr. Vom Frieden in den Kriegszustand und dann wieder zurück - das ist eine deutsche Hoffnung, aufgrund unserer Friedenssehnsucht. Das ist auch eine klassisch moderne Erzählung. Es gibt ein Problem, einen Höhepunkt und am Ende ein Happy End. Aber diese Geschichte wird nicht erzählt. Die erzählen wir uns zwar gerade selber, das ist aber nicht das, was Moskau vorhat. Moskau hat nicht nur der Ukraine den Krieg erklärt. Sondern gleichzeitig den Prinzipien und Grundlagen, nach denen wir in Europa leben. Da gibt es keinen Grund anzunehmen, dass der Kreml aufhört. Es ist wichtig, den Ukraine-Krieg in zwei Teile zu teilen. Einmal das, was in den besetzten Gebieten stattfindet - das ist schlimm genug. Und was das im Grunde für die Normen- und Wertekultur bedeutet. Was ist richtig? Was ist falsch?Somit hat die Ukraine gar keine Chance, zu gewinnen?Das würde ich nie so sagen. Weil man es nicht wissen kann. Man kann immer nur beurteilen, was man sieht. Wir haben es mit einem ganz dynamischen Geschehen zu tun. Wo kleinere Entwicklungen, große Auswirkungen haben können. Andererseits ist der Konflikt keiner, über den China besonders glücklich ist. Eventuell kann es also sein, dass Peking Moskau zu einem Waffenstillstand drängt, der nicht darin endet, dass die Ukraine komplett aufgelöst wird. Die einzige Option, die meiner Meinung nach vom Tisch ist, ist, dass wir noch große Verträge mit Russland machen. Russland hat alles Vertrauen verloren und verspielt. Zumindest unter Putin.Gibt es für Russland denn einen Weg zurück zu den alten Partnern?Ja. Deswegen ist es wichtig, einen Unterschied zu machen zwischen Russland und Putin, oder zwischen Russland und der herrschenden Elite. Wir können Russland nicht aufgeben. Wir haben uns über 30 Jahre bemüht, über Völkerfreundschaft und Städtepartnerschaften die Zivilgesellschaft zu stärken. Deshalb bitte nicht das Kind mit dem Bade ausgießen. Diese Solidarität mit dem russischen Volk muss noch größer werden. Wir dürfen nicht die gesamte russische Bevölkerung mit Putin gleichsetzen. Das wäre ein grober Fehler. Diesem Krieg ist nicht demokratisch zugestimmt worden. Das Parlament in Moskau ist lediglich ein Marionetten-Parlament. Aber es gibt für den Westen keine Zukunft mit Putin. Zumindest keine, in der er nicht in Vorleistung gehen muss, was Vertrauenswiederaufbau angeht. Die Europäer sollten auf keinen Fall aufgrund von irgendwelchen Versprechungen irgendwelche Sanktionen zurücknehmen. Das kann wenn nur aufgrund von Taten geschehen. Denn der Worte sind hier wirklich genug gewechselt worden. Durch die wir regelmäßig betrogen worden sind. Beispiel: Putin sagt letzte Woche, wir verhandeln weiter - und zieht zwei Tage später in den Krieg. Er hat Macron und Scholz antanzen lassen, mit ihnen philosophiert - dabei war der Krieg schon klar geplant. Unter den Voraussetzungen kann man sich doch nicht mehr gegenüber treten.Sie haben die Sanktionen angesprochen. Die scheinen Putin aber nicht sonderlich zu beeindrucken....Die wirken einfach später. Die wirken nicht innerhalb von Minuten, Stunden oder Tagen. Die brauchen einfach einen Moment. Aber die Zivilbevölkerung merkt, dass da etwas auf sie zugerauscht kommt.Wie hoch ist denn die Gefahr, dass Putin ein Nato-Land angreifen wird?Gering. Weil Putin genug mit dem Konflikt in der Ukraine zu tun hat. Sich jetzt mit der NATO anzulegen, ist eine ganz schlechte Idee. Wobei er natürlich schon eine Fehleinschätzung abgeliefert hat. Deshalb kann man das nicht total ausschließen. Aber das wäre eine ganz andere Nummer. Wir haben gerade gesehen, dass die Performance der russischen Armee nicht so super gut gewesen ist. Die NATO wäre ein anderer Gegner. Und nach dem bisherigen Verlauf in der Ukraine würden die russischen Soldaten vermutlich nicht hochmotiviert in die nächste Schlacht ziehen.Wenn Sie in die Zukunft schauen könnten: Wie geht's aus?Ich könnte mir vorstellen, dass ein Teil der Ukraine übrig bleibt. Aber mit einem ständigen Unfrieden, einem ständigen Konflikt. Das, war wir die letzten Jahre im Osten der Ukraine hatten - mit einer zerstörerischeren Bandbreite an Instrumenten. Die Sanktionen derzeit sind schon heftig. Weshalb der Westen weiterhin mit massiven Cyberattacken rechnen muss. Ein Krieg ohne Waffen - aber trotzdem ein massiver Konflikt. Desweiteren wird es einen Informationskrieg geben, den Krieg gegen Gesellschaften.Wir müssen uns also vom Frieden und der Freiheit der vergangenen Jahre verabschieden?Der Frieden ist Vergangenheit. Wenn wir in Freiheit leben wollen, müssen wir uns in diesem Konflikt engagieren.

Meistgelesen