Oerlinghausen. Manchmal muss man um die halbe Welt reisen, um zu seinen Wurzeln zu finden. Sonja Ruthe (66) aus Kanada ist so eine Forschungsreisende und kam deshalb mit ihrem Mann Johann Cunningham, einem Militärarzt der kanadischen Armee, nach Oerlinghausen. Für eine Woche mietete sich das Ehepaar in der Bergstadt eine Ferienwohnung und erkundete das Gebiet ihrer Vorfahren.
Sonja und Johann leben in Victoria auf Vancouver Island direkt am Pazifik. Ganz tief tauchte die perfekt deutsch sprechende Sonja Ruthe, Mutter von drei erwachsenen Söhnen, in ihre eigene Familiengeschichte ein und stieß auf ihre Vorfahren, die auf dem „Rutheland“ in direkter Nähe des ehemaligen Scherenkrugs gelebt haben, in einem Kotten der zum Gut Barkhausen gehörte.
Barkhausen (später Niederbarkhausen) ist der Geburtsort ihres Urahnen Heinrich Adolph Ruthe, der im Jahr 1817 das Licht der Welt erblickte. Seine Eltern stammten aus Ubbedissen und Lämershagen. 1845 heiratete Heinrich Adolph Ruthe in der Oerlinghauser Kirche Hanne Wilhelmine Drexhage.
Wie der Scherenkrug zu seinem Namen kam
Wie aber sah es vor zwei Jahrhunderten am Gut Barkhausen aus, als die Ruthe-Familie dort lebte? Der Historiker Roland Linde schreibt in seinem Buch über den Hof: „Verstreut über die Besitzungen des Meierhofes, aber westlich der Holzstraße, der heutigen B 66, lagen diverse Kotten, kleine Wohnhäuser, die an Pächter vergeben wurden.“ Dazu gehörte – neben anderen – seit 1786 das Ruthe-Haus. Aber auch der Scherenkrug. Linde sagt: „Der bekannteste Kotten des Meierhofes ist sicherlich der Scherenkrug, bzw. der Krug in der Scharfen Schere. Diese Bezeichnung bezog sich vermutlich auf die Wegegablung an der der ehemalige Krug bis in unsere Tage lag.“
Als Heinrich Adolph Ruthe auf Barkhausen geboren wurde hatte drei Jahre zuvor, 1814, Friedrich Ludwig Tenge, der Spross einer erfolgreichen und sehr wohlhabenden Leinen- und Tabakkaufmannsfamilie aus Osnabrück das seinerzeit verschuldete Gut von der Familie Barkhausen erworben und baute es zum eigenen Familienbesitz um. Tenge gilt als der erste Industrielle der Region, er steuerte von Niederbarkhausen aus sein wachsendes und weit verzweigtes Firmenimperium.
Tenge formte industrielle Entwicklung der Region
Tenge investierte enorme Summen in neue Ländereien und Industrieanlagen. Eine seiner größten Erwerbungen bildete der Kauf großer Gebiete in der Grafschaft Rietberg im Jahre 1822 und damit auch der Domäne Holte. Der Industrielle baute weitere Unternehmen in Ostwestfalen auf. Sägemühlen, Ziegeleien, eine Glashütte und sogar in eine neuzeitliche Papierfabrik in Dalbke im heutigen Oerlinghausen-Lipperreihe.
Die bedeutendste Firmengründung Friedrich Ludwig Tenges bildete die Errichtung der Holter Eisenhütte vor den Toren des alten Jagdschlosses Holte der Grafen von Rietberg. Das Gut Barkhausen allerdings, der repräsentative Wohnsitz der Familie Tenge, entwickelte sich zu einem echten kulturellen Zentrum mit Verbindungen zu Musikern, Künstlern und Literaten in ganz Europa.
Zwischen Dichtern, Denkern und Revolution
Im weiträumigen Garten des Gutes wurde musiziert und gedichtet. Deutsche Dichter und Denker sowie die ersten Sozialisten zählten zu den Gästen von Friedrich Ludwig Tenge. Hoffmann von Fallersleben beispielsweise begleitete Tenge sogar auf einer Italienreise. Der verfolgte Schriftsteller Ferdinand Freiligrath fand für einige Zeit eine sichere Unterkunft auf dem Gut. Sogar der erfolgreiche Unternehmer und zugleich Sozialrevolutionär Friedrich Engels reiste gelegentlich aus Wuppertal an.
Der lippische Fürst Leopold II verlieh dem Gut die Landtagsfähigkeit, es wurde dadurch in den Stand der deutschen Rittergüter aufgenommen. Eine spektakuläre Aktion erlebte das Gut Barkhausen während der Revolution 1848/49. Eine riesige Gruppe von Arbeitern und Tagelöhnern, die ihren Ursprung in der Domäne Rietberg hatten, erschien vor Tenges Gut und verlangte soziale Reformen und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Da sich Tenge weigerte, mit ihnen zu verhandeln, entführten sie ihn kurzerhand und ließen ihn erst nach mehreren Tagen und einigen Zugeständnissen wieder frei.
Laut Adressbuch war er Postbeamter
Ob Heinrich Adolph Ruthe etwas mit den Wirren der Revolution zu tun hatte, ist nicht geklärt. Wohl aber fand seine Urururenkelin Sonja Ruthe aus Kanada heraus, dass er 1866 nach Bielefeld verzog und im Adressbuch als Postbeamter geführt wurde. Einen bedeutenden Ortswechsel unternahm die Familie Ruthe in der nächsten Generation, denn der Sohn Ernst August Ruthe übersiedelte ins Ruhrgebiet, um dort als Bergmann zu arbeiten. Die Familie ließ sich in Hoerde nieder, doch wieder eine Generation später zogen die Ruthes weiter nach Rheinhausen. Die Firma Krupp bot Arbeitsplätze in der Stahlindustrie.
Den entscheidenden Sprung nach Kanada wagte Sonja Ruthes Vater Adolf Ruthe 1954. Er verließ Rheinhausen und Nachkriegsdeutschland und ließ sich in Regina in der kanadischen Provinz Saskatchewan nieder. Sonja Ruthe und ihr Bruder kamen in der Metropole Vancouver am Pazifik zur Welt.