Gewalt unter Jugendlichen in Augustdorf vor Gericht: „Ich wollte ihn nicht töten“

Detmold/ Augustdorf. Wie viel Gewalt unter Jugendlichen er in neun Jahren seiner Arbeit in der Jugendsiedlung &bdquo;Heidehaus“ erlebt hat, bekommt der Erzieher nicht mehr zusammen. Es habe viele Situationen gegeben, deshalb fielen Erinnerungen an konkrete schwer, sagt er. &bdquo;Die Einrichtung hat einen bestimmten Ruf“, erklärt der Zeuge (37). &bdquo;Sehr spezielle Jugendliche aufzunehmen, die in anderen Einrichtungen keine Chance hätten.“ Deshalb kann er sich auch nicht daran erinnern, ob der 19-Jährige dort vor ihm auf der Anklagebank vor einem Jahr besonders herausgestochen wäre. Dabei ist der Vorwurf, um den es vor Gericht geht, extrem. Der angeklagte junge Mann aus Lübeck, der einen Großteil seiner Kindheit und Jugend bei seinem leiblichen Vater in Oerlinghausen verbracht hat, muss sich vor der Großen Jugendkammer wegen versuchten Totschlags verantworten. Am Ende hält der Vorwurf nicht ganz stand, auch wenn der Angeklagte einräumt, seinen Bekannten aus der Wohngruppe im Streit gepackt und von hinten gewürgt zu haben. Das Gericht verurteilt ihn daher nach der Beweisaufnahme wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe, teilt die stellvertretende Landgerichtssprecherin Dr. Jessica Tonius mit. Wegen seiner mangelnden Impulskontrolle hält der psychiatrische Gutachter den jungen Mann für erheblich vermindert schuldfähig. Deshalb bekommt der Angeklagte vom Gericht noch die Auflage, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen. 19-Jähriger durchläuft mehrere Jugendeinrichtungen Seine Gesichtszüge wirken am Dienstagvormittag fast noch kindlich, als der Angeklagte zum Prozessbeginn von sich erzählt. Dass er für seine Gewaltfantasien bekannt gewesen sein soll, will nicht zu seinem Auftreten passen. Mehrere Jugendeinrichtungen – einige davon in Lippe – habe er durchlaufen, viel Blödsinn gemacht, Dinge zerstört und gelogen, berichtet der 19-Jährige vor Gericht. Es scheint kein einfacher Werdegang gewesen zu sein. Jetzt sitzt er in Saal 165 des Landgerichts Detmold, weil er mit zwei Jungs aus seiner Inobhutnahme-Gruppe im Juli 2023 in einem Waldstück in der Nähe des Heidehauses in Streit geriet. Erst sei er auf einen Baum geklettert, um der Situation zu entkommen, weil die anderen ihn nicht dabei haben wollten und provozierten. Nach etwa 20 Minuten soll er runtergekommen und den einen Jungen, ein heute 18-jähriger Detmolder, von hinten gepackt sowie gewürgt haben, bis der kaum noch Luft bekam. Dabei hatte eigentlich dessen 15-jähriger Kumpel ihn mehr provoziert und beleidigt, gibt der Angeklagte zu. &bdquo;Aber der war ja noch fast ein Kind.“ &bdquo;Gewürgt, bis ich keine Luft mehr bekam“ Den Streit und den Schwitzkasten räumt der 19-Jährige ohne Umschweife ein. Nur einen entscheidenden Punkt nicht: &bdquo;Ich wollte ihn packen und hin und her schleudern“, sagt er. &bdquo;Aber ich wollte ihn nicht töten.“ Genau das soll der Angeklagte ein paar Wochen nach der Tat zu einer Betreuerin gesagt haben. Die Große Jugendkammer unter dem Vorsitz von Richterin Anke Grudda muss daher in der Sitzung herausfinden, ober der junge Mann wirklich jemanden in Rage töten wollte. &bdquo;Ich habe seine Wut abbekommen“, da ist sich das Opfer sicher. &bdquo;Als er mich gewürgt hat, habe ich fast keine Luft mehr bekommen.“ Ein Tötungsvorsatz lässt sich aus Sicht der Kammer allerdings nicht feststellen, berichtet die stellvertretende Landgerichtssprecherin im Anschluss. Dafür seien die Angaben der betreuenden Personen zu unterschiedlich gewesen. Schwierig gestaltet es sich für die Kammer ebenfalls, den Vorfall zu entwirren. Das Opfer sagt, sein Freund habe ihn durch Schläge aus den Griffen des Angreifers befreit, sonst wäre vielleicht Schlimmeres passiert. Der angeklagte Lübecker behauptet dagegen, er habe einfach irgendwann abgelassen, weil er den Detmolder nicht auf den Boden bekommen habe. Dessen Kumpel gibt vor Gericht auffällig oft an, sich an nichts mehr zu erinnern, obwohl die Tat gerade einmal ein Jahr und drei Monate her ist. Trotz geduldiger Nachfragen kommt die Vorsitzende mit dem Zeugen keinen Schritt weiter. Sie alle scheinen ihre Geschichte mitzubringen. Letztendlich stimmt das Urteil mit dem Antrag von Staatsanwältin Helena Fromme überein. Verteidiger Remzi Yalcin hatte zuvor beantragt, für seinen Mandanten nach dem Jugendgerichtsgesetz einen Schuldspruch zu verhängen. Laut Dr. Jessica Tonius wäre der 19-Jährige in solch einem Fall zwar schuldig gesprochen worden, über seine Strafe aber erst nach einer festgesetzten Bewährungszeit entschieden worden. Dazu kommt es nicht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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