
Oerlinghausen. Es waren schon abenteuerliche Zustände, die in Lipperreihe in den 1960er Jahren herrschten. Die ruhige Sennegemeinde hatte sich zu einem echten Rotlichtmilieu entwickelt. „Was sich auf den Waldwegen und sogar auf der Hauptstraße der ca. 1.500 Einwohner großen Gemeinde abspielt, ist einfach unbeschreiblich“, schrieb die Freie Presse, eine Vorgängerin dieser Zeitung im Mai 1964. „Nicht selten kommt es zu peinlichen Verwechslungen: Ehrbare Dorfbewohnerinnen werden von fremden Kavalieren angesprochen.“ Und der Gemeinderat Lipperreihes beklagte auf Ratssitzungen immer wieder die „Heimsuchung“ durch die leicht bekleideten Dirnen und ihre Freier.
In der Sennegemeinde Lipperreihe, die erst im Jahre 1969 ein Stadtteil Oerlinghausens wurde, hatte sich ein umfangreicher Straßenstrich etabliert „weil die Stadt Bielefeld den Angehörigen des ältesten Gewerbes der Menschheit die Ausübung auf ihren Straßen verboten hat.“ (Freie Presse) „Deshalb verlagern die Dirnen ihre Tätigkeit immer stärker in die stille Heidelandschaft der benachbarten Senne“, stellte Bürgermeister August Prante am 10. Mai 1964 auf einer Ratssitzung fest.
Mit Trillerpfeifen Schäferstündchen gestört
„Auf Lipperreiher Gebiet standen besonders viele Prostituierte am Heideweg / Ecke Holter Straße und am Hellweg, zwischen dem Bartholdskrug und der heutigen Tunnelstraße“, erzählte der Lipperreiher Harald Reimann bei einem Treffen der Heimatwerkstatt im Stratehaus. Einige ältere Bürger der Gemeinde waren damals notwendigerweise Zeitzeugen der Prostitution auf Lipperreiher Gebiet. „Als Kinder haben wir uns gelegentlich sogar einen Spaß daraus gemacht, die Damen bei ihrem Geschäftsbetrieb zu ärgern“, erinnert sich Reimann mit einem Augenzwinkern. „Mit Trillerpfeifen haben wir manchmal das Geschäft in den Büschen gestört.“
Die Kreisbehörde und die Polizei versuchten vergeblich, das Treiben zu unterbinden. Ein hochrangiger Beamter der Kreisverwaltung Lemgo bekannte auf einer Lipperreiher Gemeinderatssitzung: „Leider kommt man an diesen Personenkreis nicht so leicht ran. Die Polizei hat wiederholt versucht einzugreifen. Sie kann niemandem, auch den leichten Mädchen nicht, das Befahren öffentlicher Wege verbieten“. Die Situation in Lipperreihe eskalierte im Laufe des Jahres 1964 immer mehr. Nachdem eine im Ruhrgebiet erscheinende Boulevardzeitung unter der Überschrift „Die zweite Schlacht im Teutoburger Wald“ über das „Dirnenunwesen“ in der Senne berichtet hatte, habe sich die Zahl der motorisierten leichten Mädchen durch „Nachwuchskräfte“ aus dem Ruhrgebiet nahezu verfünffacht, schrieb die Freie Presse. „Sogar eine türkische Gastarbeiterin hat den Beruf gewechselt und sich ihren deutschen Kolleginnen angeschlossen. Kein Wunder bei den zwei- bis dreistelligen Stundenlöhnen, die für käufliche Liebe in der Senne gezahlt werden“. Bald aber griffen die Behörden rigoros durch. Im Dezember 1964 setzte die bislang schärfste Polizeiaktion gegen die Prostitution in der Senne ein. An einem Wochenende vor Weihnachten gab es eine Razzia, bei der eine größere Anzahl von Damen zum Gesundheitsamt der Kreisverwaltung in Lemgo transportiert wurden. „Nach der ärztlichen Untersuchung wurden sie mit einem Aufenthaltsverbot und Androhung schwerer Ordnungsstrafen wieder entlassen“, hieß es in der Zeitung, „auch die Liebhaber der Dirnen sollen in Zukunft nicht mehr geschont werden.“ Allmählich bekam die Kreisverwaltung das Problem unter Kontrolle. Nach der Strafandrohung mieden immer mehr Damen nun die Lipperreiher Straßen und Waldwege. Seit dem 15. April 1965 gab es dann eine echte rechtliche Handhabe gegen die Prostitution. An diesem Tag wurde die Gemeinde durch Verordnung offiziell zum Sperrbezirk erklärt. Es wurde ruhiger im Ort, aber so leicht wurde Lipperreihe den Ruf, ein Ort der käuflichen Liebe zu sein, nicht los. Die Freie Presse stellte fest: „Das hindert nämlich diese Erwerbstätigen und ihre Kunden nicht, weiterhin der Waldeslust zu frönen.“
„Minirock-Dame ist eine Frechheit“
Ein kurioses, aber damals höchst ärgerliches Nachspiel ereignete sich ein Jahr später. Der Verkehrsverband Teutoburger Wald e.V. druckte 1966 eine hübsche farbige Werbebroschüre, in der die Schönheit der Region und ihrer Kommunen dargestellt werden sollte. In diesem Prospekt wurde als Attraktion Lipperreihes ein Mädchen mit vielversprechenden Minirock, der noch bis zur Hälfte geschlitzt war und in unverkennbarer Haltung, gezeigt. „Die Minirock-Dame im Prospekt ist eine Frechheit“, fand der Lipperreiher Gemeinderat und erwirkte eine einstweilige Verfügung, um den weiteren Vertrieb der Broschüre zu verhindern. Der neue Bürgermeister Heinz Heidbrink forderte mit Nachdruck, dass die Prospekte alle eingestampft werden sollten. Die Einwohnerinnen Lipperreihes seien der Belästigungen überdrüssig und meinen, die Damen sollten besser auf St. Pauli ihrem Gewerbe nachgehen, erklärte er. Denn obwohl Lipperreihe nun Sperrbezirk sei, würden Frauen manchmal noch auf der Straße angesprochen. Heidbrink: „Es kommt immer wieder vor, dass Autofahrer ihnen Angebote machen oder zufällig vorbeifahrende Polizei den Ausweis verlangt.“