„Mehr als nur ein Opfer“: Joaline Beifordt (24) aus Detmold wurde auf Radtour überfahren

Detmold. Leere. Da ist so viel Leere. Unerfüllte Träume. Aber auch schöne Erinnerungen an einen besonderen Menschen. Und die furchtbare Gewissheit, dass Joaline nicht mehr durch die Tür ihres Elternhauses in Heiligenkirchen kommen wird. Dass es keine gemeinsamen Abendessen und Familienausflüge, keine allabendlichen Telefonate und keine Saunabesuche mit der Mama mehr geben wird. Vor sechs Monaten starb Joaline bei einer Radtour. Ein Autofahrer überfuhr die junge Frau, als sie bei Nessenberg die viel befahrene Landesstraße Straße überqueren wollte. Der 30-jährige Fahrer war mutmaßlich zu schnell, er steht demnächst vor Gericht. Doch Natalie Beifordt möchte nicht über den Unfallfahrer, sie möchte über ihre Tochter sprechen. &bdquo;Es wird viel berichtet, aber es ist immer nur ein Opfer. Sie war viel mehr. Sie hat sich in ihrem kurzen Leben beruflich und privat sehr für Menschen eingesetzt, die benachteiligt waren: für alte Menschen und kranke Menschen, uns sogar für Tiere“, schrieb die 45-Jährige in einer Mail, nachdem sie von der Nachricht über den anstehenden Prozess überrascht worden war. Eine Mitteilung über den Stand der Ermittlungen seitens der Behörden hatte die Familie nicht erhalten, obwohl sie als Nebenklägerin auftritt. Beim persönlichen Gespräch im Esszimmer der Familie ist die große Traurigkeit spürbar. Während Natalie Beifordt von ihrer Tochter erzählt, klammert sie beide Hände fest um die Kaffeetasse. Auf dem Sideboard steht das schwarz gerahmte Schwarz-Weiß-Foto einer jungen, hübschen Frau im Karohemd. Joaline strahlt in die Kamera. Daneben stehen frische Rosen in einer schnörkellosen Vase. Fast 500 Menschen bei der Trauerfeier Fast 500 Menschen seien zu der Trauerfeier in Heiligenkirchen gekommen, und als der Trauerzug sich am 28. April 2025 bei schönem Sonnenschein von der Kirche in Richtung Friedhof bewegte, hätten die Menschen gefragt: Wird hier eine berühmte Persönlichkeit beerdigt? &bdquo;Nein. Sie war nicht berühmt, überhaupt nicht; sie hat sich nur um ihre Mitmenschen gekümmert“, sagt ihre Mutter. Joaline Beifordt wurde nur 24 Jahre alt, doch in ihrer kurzen Zeit auf Erden erreichte sie so viel: Mit 16 entschied sie sich, in die Altenpflege zu gehen. Ihre Eltern waren skeptisch. So ein schwerer Beruf, körperlich wie seelisch – würde ihr Mädchen das schaffen? Doch Joaline ließ sich nicht beirren. Sich um Menschen zu kümmern , das war das, was sie unbedingt wollte. Natalie Beifordt erinnert sich, dass Joaline schon als Kindergartenkind diesen Spürsinn hatte für Menschen, die Hilfe benötigten. Sie schildert eine Begebenheit an einer Ampel, als die Kleine ihre Mutter auf eine ältere Frau aufmerksam machte, die sich offenbar nicht über die Straße traute. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine orientierungslose Seniorin. &bdquo;Ohne Joaline hätte ich sie gar nicht bemerkt.“ Die Jugendliche absolvierte nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung im Augustinum in Hiddesen – als Jüngste im Team. Sie arbeitete sich in wenigen Jahren zur stellvertretenden Pflegedienstleitung hoch und sollte innerhalb der Seniorenresidenz gerade noch eine neue, eine zusätzliche Aufgabe im Social Media Management übernehmen. Von der neuen Verantwortung erfuhr sie erst an Gründonnerstag, zwei Tage vor ihrem Tod: &bdquo;Sie war so stolz und glücklich.“ &bdquo;Anderen zu helfen, war ihr Ding“ Wenn Natalie Beifordt von ihrer Tochter erzählt, spricht sie leise, manchmal stockend. Das Gespräch wühlt sie auf. Aber das nimmt sie auf sich. Sie möchte die Menschen aufrütteln, möchte Joalines Mission bekannt machen und erreichen, dass die Menschen aufmerksamer werden auf ihre Mitmenschen. &bdquo;Ich weiß schon, Mütter verherrlichen ihre Kinder immer. Aber Joaline war so: Anderen Menschen zu helfen, war ihr Ding. Sie konnte jeden verzaubern. Und sie wollte jungen Menschen vermitteln, respektvoll miteinander umzugehen.“ Mutter und Tochter haben ein inniges Verhältnis. Sie gehen regelmäßig zusammen in die Damensauna, gründen eine Volleyballmannschaft und reisen gemeinsam. Sie selbst sei immer in Sorge gewesen, dass sich die Tochter übernehme. Schließlich habe sich Joaline im Seniorenheim viel Zeit für die Alten genommen und immer mit Einsamkeit und Tod zu tun gehabt. Jeden Abend telefonieren sie. Joaline habe immer gesagt: ,Ach Mama, es ist alles nicht schlimm’ – und gelacht. Sie hatte so ein wunderschönes Lachen.“ Karfreitag besucht Joaline ihre Eltern. Sie bricht das Fasten einen Tag früher, denn ihr Vater hat ihr Lieblingsessen – Crêpes mit Marmelade – gemacht. Die Familie sitzt noch einmal zusammen. Dass es das letzte Mal sein wird, kann keiner ahnen: &bdquo;Zum Abschied habe ich ihr gesagt, wie lieb ich sie habe, dass ich so stolz auf sie bin und sie die Anerkennung und neue Verantwortung verdient habe“, erinnert sich die Mutter. Seit ihrer Konfirmation ist die 24-Jährige tief gläubig. Ihr Konfispruch beschreibt ihre Einstellung: &bdquo;Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ &bdquo;Sie hatte einen bedingungslosen Glauben“ Zunächst engagiert sie sich in ihrer Kirchengemeinde in Heiligenkirchen, wo sie Bibelwochen für Kinder mitgestaltet und betreut. Als sie vor zwei Jahren mit ihrem Freund zusammenzieht, wechselt sie in die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde St. Michael im Kampe in Hiddesen und lässt sich dort im Februar 2024 in den Kirchenvorstand wählen. &bdquo;Sie hatte einen starken, bedingungslosen Glauben und hat sich so sehr für das menschliche Miteinander eingesetzt“, beschreibt ihre Mutter sie. &bdquo;Joaline war sehr engagiert und immer fröhlich“, erinnert sich Pfarrer Björn Kruschke an das zweitjüngste Mitglied im Kirchenvorstand seiner Gemeinde. Er habe sich immer gewundert, woher sie all die Energie genommen habe – zum Beispiel, wenn sie regelmäßig vor der Frühschicht schon joggte. &bdquo;Ihr fester Glaube, ihr Humor und ihre Einsatzbereitschaft haben uns inspiriert und unsere Gemeinde bereichert. Sie hatte noch so viel vor...“, heißt es im Nachruf der Gemeinde. Ja, sie hatte viel vor; sie war glücklich und hatte die beste Phase ihres Lebens: Ihren langjährigen Freund wollte sie bald heiraten, dann Kinder bekommen, sie suchten schon nach einem Haus. Und nach der Familienphase wollte sie die Pflegedienstleitung im Heim übernehmen. Alle Ziele hatte sie fest im Blick – &bdquo;fast so, als hätte sie gewusst, dass sie nicht viel Zeit hat“, meint die Mutter. Die letzten Worte Der 19. April 2025 ist Karsamstag, bestes Ausflugswetter. Joaline macht mit der Familie ihres Freundes eine Fahrradtour von Detmold zum Schiedersee. Ihr E-Bike, mit dem sie immer die kurze Strecke zur Arbeit fuhr, leiht sie der Freundin des Bruders ihres Freundes. Sie darf das erst wenige Wochen alte E-Bike ihrer Mutter nehmen.Morgens schreiben sich Mutter und Tochter noch – Natalie Beifordt mahnt, dass sich ihre Tochter warm genug anziehen soll, schließlich ist es morgens noch kühl. Joaline schickt ein Selfie mit ihrem Freund: &bdquo;Da hab ich noch zurückgeschrieben: So besonders warm sieht das aber nicht aus.“ Das letzte Foto. Die letzten Worte. Was wäre gewesen, wenn...? Viele Fragen quälen die Eltern. Wenn die Mutter sich nicht just ein E-Bike gekauft hätte? Wenn der Autofahrer langsamer oder aufmerksamer gewesen wäre? Wenn Joaline Sekunden später oder früher die Fahrbahn überquert hätte? Joaline, ihr Freund und dessen Vater kommen als erstes an der Stelle in Nessenberg an, wo der Radweg abrupt endet und auf der anderen Seite fortgeführt wird. Hier warten sie auf die letzten beiden der Gruppe. Bevor Joaline die viel befahrene Landesstraße quert, schauen alle fünf nach links und rechts. Ein Fahrzeug hätten sie nicht kommen sehen, berichten Vater und Sohn später – ihre Aussagen sind alles, was die Joalines Eltern bislang über die Geschehnisse wissen. Joaline will als erstes über die Straße fahren. Dann kommt es zu der Kollision: Mindestens 98 km/h schnell soll der Autofahrer laut Verkehrsgutachten in dem Moment gefahren sein, als er mit seinem Ford die junge Radfahrerin überfährt – an einer Stelle, wo maximal 70 km/h erlaubt sind. Eine Sekunde, die alles verändert. Pöbeleien an der Unfallstelle Als die Eltern und der zwei Jahre jüngere Bruder an die Unfallstelle kommen, spielen sich unschöne Szenen ab. Pöbeleien von anderen Autofahrern, die nicht wissen, dass es sich bei den Beifordts um Angehörige handelt, ebenso wie Ärger mit der Polizei. Man hält sie zunächst für Schaulustige. Stundenlang müssen sie später vor Ort warten, denn die Unfallaufnahme dauert. Die Mutter bittet immer wieder, zu ihrer Tochter gelassen zu werden:&bdquo;Ich wollte zu meinem Mädchen, sie lag doch da ganz allein.“ Üblich sei es nicht, Angehörige vor Ort zu verstorbenen Unfallopfern zu lassen, erklärt Polizeisprecherin Dr. Laura Merks. In diesem Fall entscheidet der Leiter des Verkehrskommissariats, dass die Mutter ihr Kind &bdquo;in einer kontrollierten Situation“ sehen darf – das sei aber erst Stunden später möglich gewesen. &bdquo;Dass man uns so lange in Unwissenheit gelassen hat, können wir bis heute nicht verstehen – wir alle waren emotional am Ende“, sagt Natalie Beifordt. Das bevorstehende Osterfest bedeutet für die Hinterbliebenen noch mehr Hürden. Mehrfach fragt der Vater nach, ob die Angehörigen ihre Tochter noch einmal sehen dürfen – ohne Erfolg, der Leichnam ist beschlagnahmt. Die Familie habe auch sonst keinerlei Informationen erhalten – &bdquo;als ob man aufhört, Eltern zu sein, sobald das Kind 18 ist“. Joalines Handy ist bis heute verschollen. Dabei wären doch die letzten Fotos und Nachrichten darauf für die Hinterbliebenen so wertvoll. Vom Obergeschoss sehen die Eltern das Grab Erst als am Dienstag nach Ostern der beauftragte Bestatter den Leichnam nach Heiligenkirchen holen darf, kann sich die Familie endlich tags darauf verabschieden. Beerdigt wird Joaline auf dem Friedhof in Heiligenkirchen – direkt neben ihrem Elternhaus. Wenn die Mutter im Obergeschoss aus dem Fenster schaut, kann sie das Grab sehen: &bdquo;Die Vorstellung, dass mein Mädchen da alleine unter der Erde liegt, ist schwer auszuhalten.“ Ob die Bestattung im Sinne der Verstorbenen war, wisse sie nicht, sagt sie: &bdquo;Joaline hat auch den Wald geliebt, vielleicht wäre sie lieber dort beerdigt worden – aber man spricht doch über sowas nicht mit seinem Kind!“ 2770 Menschen wurden in Deutschland 2024 im Straßenverkehr getötet. Statistisch sind von einem Verkehrstoten 113 weitere Menschen direkt betroffen – Unfallbeteiligte, Zeugen, Familie, Freunde, Arbeitskollegen, das soziale Umfeld. Seit Joaline tot ist, ist das Leben für die Angehörigen und ihren Lebenspartner ein Kampf: &bdquo;Wir waren eine stabile glückliche Familie – und mit einem Schlag ist alles weg“, schildert die Mutter. Ein halbes Jahr ist inzwischen vergangen: &bdquo;Du stehst jeden Morgen auf, und da ist keine Freude mehr.“ Selbst schöne Dingen seien quälend, man denke immer nur daran, dass Joaline nun nicht mehr dabei sein könne – und wie sie wohl reagiert hätte. Die Eltern versuchen, sich mit viel Arbeit abzulenken. Geblieben ist ihnen Akina (6), die Hündin lebt seit dem Tod ihres Frauchens in Heiligenkirchen. Joalines Bruder versucht, den Verlust seines &bdquo;Lieblingsmenschen“ auf seine Art zu überstehen. In der Kirchengemeinde und auch bei seinen Besuchen im Augustinum wird Pfarrer Kruschke immer wieder auf Joaline angesprochen: &bdquo;Die Bewohner erinnern sich an sie, sprechen über sie und trauern um sie.“ Ob diese Traurigkeit einmal weichen wird, dieses Trauma irgendwann in den Hintergrund treten kann? &bdquo;Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals aufhört“, sagt Natalie Beifordt. Den Prozess gegen den Fahrer mit all den Details über den Unfall fürchtet die Familie. Dennoch treten die Eltern als Nebenkläger auf: &bdquo;Wir können sie doch nicht allein lassen, das sind wir ihr schuldig.“

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