Oerlinghausen

Besondere Lesung im Oerlinghauser Bürgerhaus

Steinheimer Autorin hat für ihre Lesung gleich zwei Bücher mitgebracht. In ihnen findet sich ein Stück lebendige Zeitgeschichte und eine überraschende Erkenntnis.

Sandra Brökel liest im Bürgerhaus aus ihren zwei zusammengehörenden Büchern. Auf der Leinwand im Hintergrund sind die Protagonisten zu sehen. | © Karin Prignitz

Karin Prignitz
02.10.2020 | 02.10.2020, 17:51

Oerlinghausen. Vier Minuten lang ist der Film, den Sandra Brökel an das Ende ihrer Lesung stellt. Szenen sind dort zu sehen, die die 40 Besucher im Saal des Bürgerhauses sichtlich bewegen, denn sie können nun Personen und Orte optisch mit dem verbinden, was sie in der vorangegangenen Lesung gehört haben. Um die Lebensgeschichte des tschechischen Arztes und Psychiaters Pavel Vodák, um dessen Tochter und nicht zuletzt um die Verknüpfung mit Sandra Brökels eigenem Leben geht es darin.

"Ich bin da reingestolpert"

Gleich zu Beginn stellt Sandra Brökel klar: „Ich wollte nie ein Buch schreiben, ich bin da reingestolpert.“ In nur zehn Wochen schrieb sie ihren Familienroman „Das hungrige Krokodil“, der mittlerweile in der vierten Auflage erschienen ist. Seit Februar dieses Jahres gibt es ein zweites Buch. Titel: „Pavel und ich.“ In ihm ist die Geschichte hinter der Geschichte des Romans zu lesen.

Es sind die immer wieder auftauchenden emotionalen Momente, mit denen Sandra Brökel ihre Zuhörer mit auf eine Reise in die Vergangenheit nimmt. Ihre vor drei Jahren so plötzlich verstorbene Freundin und Kollegin „Paulchen“ lernt das Auditorium kennen und begleitet die beiden Frauen nach Prag. Dorthin, wo Paulchen aufgewachsen ist, wo ihr Vater Pavel Vodák, ein bekannter Arzt und Psychiater, im Frühling 1968, wie viele andere Tschechen auch, Hoffnung schöpft. Hoffnung auf Reformen, auf Freiheit, auf Demokratie.

Als die Panzer rollen, zerplatzen die Träume

Doch als die Panzer rollen, zerplatzen all diese Träume. Pavel will ein anderes Leben für seine Tochter. Frei leben, denken und entscheiden soll sie können. Die Familie flüchtet nach Deutschland, und Sandra Brökel spickt die Szene mit der alten, kranken Schwiegermutter im Zug, die glaubt, es gehe in den Urlaub, mit einer Prise Humor.

Bei ihrer Freundin Paulchen kommen Fluchterinnerungen hoch, als immer mehr Geflüchtete nach Deutschland kommen. Sandra Brökel fährt mit ihr nach Prag, zur alten Wohnung im heruntergekommenen Wohnblock, zu den einst vertrauten Plätzen – zurück zu den Wurzeln und der verletzten Seele.

Menschen haben alles Vertraute zurückgelassen

Sandra Brökel zieht bei der Lesung den Bezug zur aktuellen Zeit. Nicht nur bei ihrer Freundin habe die Entwurzelung vieles zerstört, ähnlich verhalte es sich bei den Geflüchteten, die heute kämen. „Wir müssen nicht nur das Außen, sondern auch das Innen sehen.“ Sprache, Freunde, Arbeit, diese Menschen hätten alles Vertraute zurückgelassen.

Pavel Vodák hinterließ einen Arztkoffer mit 1.400 Seiten Lebensgeschichte. Sandra Brökel hat dieses Stück Zeitgeschichte lebendig gemacht. Erst ganz am Schluss erzählt sie davon, wie ihr eigenes Leben mit dem von Pavel Vodák schon lange, bevor sie dessen Tochter kennenlernte, verknüpft war. Als Adoptivkind suchte die Schreib- und Trauertherapeutin Antworten und stieß auf ein Buch Vodáks. „Pavel und ich“ schrieb die Steinheimerin im Prager „Café Slavia“. Für Sandra Brökel ist das Buch ein Vermächtnis.

„Seine Gedanken tragen jetzt meine Handschrift“, sagt die Autorin. Sandra Brökel hat der Lebensgeschichte von Pavel Vodák ein Ende gegeben. „Ein Heimkind vollendet, was ihm nicht mehr möglich war.“ Erschienen sind die beiden Bücher im Bielefelder Pendragon-Verlag. Verleger Günther Butkus berichtete vor Beginn der Lesung, dass diese die erste seit Ende Februar sei. „80 sind seither ausgefallen.“

Die Erlöse der beiden Bücher von Sandra Brökel kommen sozialen Zwecken zugute. Unterstützt worden sind damit unter anderem bereits „Stolpersteine“ in Nordböhmen, Flüchtlingsorganisationen und Kinderheime.