Oerlinghausen

Tschüss, Jugendherberge

Stadtgeschichte: Wanderer und Schulklassen aus ganz Deutschland waren hier zu Gast. In den blutigen Kriegstagen 1945 ward das Haus heiß umkämpft und wechselte mehrfach die Besatzer

Traumlage. Die Jugendherberge – hier ein Postkartenbild kurz nach der Eröffnung im Jahr 1929 – machte Oerlinghausen in ganz Deutschland bekannt. Repro: Horst Biere / Quelle: Werner Höltke | © Repro Horst Biere

22.12.2018 | 22.12.2018, 09:21

Oerlinghausen. Ein Oerlinghauser Wahrzeichen verschwindet. Die Jugendherberge, das wohl meistumkämpfte Haus der letzten Kriegstage, das dabei schwer beschädigt wurde, wird durch kräftige Abrissbagger nun endgültig dem Erdboden gleichgemacht. Moderne Ferienwohnungen will ein Investor aus Asemissen an dieser Stelle in einem neuen, großen Gebäude mit Tiefgarage unterbringen.

„Es ist ein Freudentag für die Stadt Oerlinghausen", beschreiben Chroniken die Eröffnung der Jugendherberge am 9. Juni 1929. Denn Wandern stellte in den 20er Jahren eine wahre Volksbewegung dar. In ihrer Freizeit zog es die Menschen immer mehr in die Natur, „Wandervogel" oder „Zupfgeigenhansel" nannte man liebevoll die zumeist jugendlichen Naturliebhaber, die mit Gitarre und Gesang durchs Land pilgerten. Der Teutoburger Wald und vor allem sein Kammweg zog die Wanderer aus ganz Deutschland magisch an.

Abriss: Sorgfältig trennt die Abbruchfirma die damals verwendeten Baumaterialien, die aus heutiger Sicht umweltbedenklich sind. Mitte Januar – das teilte das Unternehmen mit – soll das Gebäude völlig verschwunden sein. Foto: Horst Biere - © Repro Horst Biere
Abriss: Sorgfältig trennt die Abbruchfirma die damals verwendeten Baumaterialien, die aus heutiger Sicht umweltbedenklich sind. Mitte Januar – das teilte das Unternehmen mit – soll das Gebäude völlig verschwunden sein. Foto: Horst Biere | © Repro Horst Biere

Das damalige Jugendherbergswerk suchte im Bereich Oerlinghausen schon lange bezahlbare, einfache Übernachtungsmöglichkeiten. Ein erster Behelfsschlafsaal entstand im Dachgeschoss der Volksschule, im heutigen Rathaus: Übernachtungen auf Strohsäcken, säuberlich getrennt nach Mädchen und Jungen, aber problematische hygienische Bedingungen, weil jährlich bis zu 2.000 Gäste hier schliefen.

Grünes Licht gab's 1928

Ortshistoriker Werner Höltke hat recherchiert, was zur Errichtung des großen Neubaus führte. Ein lokaler Unterstützerverein unter dem Vorsitz von Lehrer Wilhelm Holzkamp forderte schon lange den Neubau einer Jugendherberge. 1928 endlich gab es grünes Licht. Die Finanzierung klappte, Bürgermeister August Reuter hatte sich für ein städtisches Grundstück auf dem Tönsberg eingesetzt, und das Jugendherbergswerk im „Gau Oberweser" übernahm als Träger das künftige Haus.

Wird in ähnlicher Form aufgebaut: Lediglich das Flachdach wird ein Geschoss höher, teilt das Bauamt mit. Der Rat stimmte im Juni für das Neubauprojekt. Bedingung des Verkaufs war eine touristische Nutzung. Im Neubau sind 19 Ferienwohnungen vorgesehen, dazu eine Privatwohnung und Büroräume. Käufer ist ein Investor und Architekt aus Leopoldshöhe. Foto: Martin Düsterberg - © Martin Düsterberg
Wird in ähnlicher Form aufgebaut: Lediglich das Flachdach wird ein Geschoss höher, teilt das Bauamt mit. Der Rat stimmte im Juni für das Neubauprojekt. Bedingung des Verkaufs war eine touristische Nutzung. Im Neubau sind 19 Ferienwohnungen vorgesehen, dazu eine Privatwohnung und Büroräume. Käufer ist ein Investor und Architekt aus Leopoldshöhe. Foto: Martin Düsterberg | © Martin Düsterberg

Mit großem Brimborium eröffnete man im Juni 1929 das moderne Gebäude. Landespräsident Heinrich Drake sprach feierliche Worte, Bürgermeister August Reuter, die Vertreter der deutschen Jugendherbergen ebenfalls. Es sei eine echte Bereicherung für die Bergstadt, stellte man unisono fest.

Und das Haus entwickelte sich prächtig. Daran änderte auch die Übernahme durch die „Reichsjugendführung" der Nazis im Jahr 1933 nichts. Im Gegenteil, es brachte noch mehr Leben in das Gästehaus, denn nun mussten es auch Schulklassen zur politischen Bildung nutzen. Und die örtliche HJ (Hitlerjugend) versammelte sich hier ebenfalls. Werner Höltke: „Ich erinnere mich noch an damals übliche Geländespiele oder das Erlernen von Kampfliedern der Nazizeit".

Alle Oerlinghauser Jugendlichen mussten beim Aufräumen helfen

Dramatische Tage erlebte die Jugendherberge an den Ostertagen 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Alliierten rückten von Süden her auf Oerlinghausen vor. Die Bergstadt wurde durch einen fanatischen Offizier zur Festung erklärt und sollte mit etwa 70 unerfahrenen Jungen Soldaten gegen die Übermacht der US-Armee verteidigt werden.

Die Jugendherberge bildete wegen seiner exponierten Lage auf dem Tönsberg ein erstklassiges Ziel für die Panzergranaten, denn hier oben hatten sich wegen der guten Rundumsicht die deutschen Soldaten verschanzt. Immer wieder kämpften sich die amerikanischen Soldaten am Tönsberg empor und besetzten das Gebäude. Doch bald gelang es den deutschen Kamptrupps, die Jugendherberge zurück zu erobern. Im Turm der Alexanderkirche hatten sich mittlerweile US-Scharfschützen festgesetzt und schossen auf alles, was sich bewegte. Mehrmals wechselte die Jugendherberge die Besatzer, in blutigem Häuserkampf holte sich die jeweils andere Partei das Gemäuer zurück.

Einige wählten den Freitod

Letztlich starben fast alle jungen deutschen Soldaten bei der Verteidigung der Bergstadt, und ganz Oerlinghausen wurde von den Alliierten übernommen, die nun in endlosen Militärtrecks weiter Richtung Osten zogen. Besonders schlimm war die Situation im Untergeschoss der Jugendherberge. In Todesangst wählten mehrere verzweifelten Bewohner den Freitod, unter ihnen auch der Herbergsvater, den alle nur „Onkel Hugo" nannten. Doch der Wiederaufbau begann bald in den Nachkriegsmonaten. Alle Oerlinghauser Jugendlichen mussten beim Aufräumen helfen. Werner Höltke: „Ich konnte unserem stadtbekannten Maurer Fritz Grabbert beim Aufbau des Dachgeschosses zur Hand gehen."

Aber dann normalisierte sich das Leben wieder, und die Jugendherberge wurde in den folgenden Jahrzehnten immer mehr zum beliebten Ziel von Wanderern und Schulklassen. Mehrere An- und Umbauten schufen immer neue Übernachtungsmöglichkeiten bis zu etwa 120 Betten in fast 20 Schlafräumen. Menschen aus ganz Deutschland kennen heute noch Oerlinghausen durch ihren Aufenthalt in der Jugendherberge.

Nach dem Jahr 2000 gingen die Belegungszahlen immer mehr zurück, weitere Modernisierungen durch das Jugendherbergswerk (DJH) wären notwendig geworden, doch die Zentrale in Detmold scheute nochmalige Investitionen. Schließlich, im Oktober 2012, teilte der Vorstand mit: „Zum Saisonende 2012 wird die Jugendherberge geschlossen". Die Stadt Oerlinghausen übernahm für einen symbolischen Preis die Immobilie. Nach mehreren Nutzungsalternativen unter anderem mit der Unterbringung von Geflüchteten, hieß das Konzept: Abriss. Bagger rückten an und schaffen Platz für ein neues Gebäude.