Stadtgeschichte: Wie Lehrer Paul Stecker die Tage im April 1945 erlebte. Die Alliierten nahmen den Ort ohne Kampfeinsatz ein – im Gegensatz zu Oerlinghausen
Oerlinghausen. „Die Stille wirkte unheimlich. Gegen 9 Uhr war die Straße plötzlich leer, kein Mensch war zu sehen, keine Detonation mehr zu hören.“ Paul Stecker, einziger Lehrer der Lipperreiher Schule, ging allein durchs Dorf – vorbei am Pollmannskrug am Morgen des 1. April 1945 kurz vor Kriegsende. „Alle Einwohner hielten sich in ihren Häusern auf, dabei war es ein wunderschöner sonniger erster Ostertag“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Aber die Wochen zuvor hatten sich als ein schlimmer Albtraum für die Menschen der kleinen Gemeinde erwiesen – wie in vielen Orten Deutschlands.
Auch Lipperreihe lag nun im Bereich der Front. „Flieger waren fast den ganzen Tag über uns, deutsche Soldaten lebten in der Schule und in Blockhäusern. Der Segelflugplatz diente schweren Transportmaschinen als Landeplatz. Vor Oerlinghausen und Dalbke wurden Panzersperren an den Straßen errichtet“, schildert Paul Stecker in seinen Erinnerungen die Situation.
Bald trafen die ersten Evakuierten aus den Städten des Ruhrgebiets ein. Sie machten auf Paul Stecker allesamt einen müden, abgehetzten Eindruck. Sie besaßen teilweise nur das, was sie am Leib trugen. Sie brachten viele schulpflichtige Kinder mit, darum stieg in diesen Wochen die Schülerzahl in Lipperreihe auf 80 Kinder an.
Der Lehrer schreibt: „Es mangelte an Büchern, Schreibheften, aber vor allem an Kleidung und Schuhen. Abends hörte man dann oftmals die Stimme von Propagandaminister Goebbels im Radio, der von neuen Wunderwaffen sprach.“ Ein deutsches Flugzeug stürzte in jenen Tagen in der Nähe des Segelflugplatzes ab und zerbarst in viele Stücke, ein britischer Jagdbomber flog nachts so tief, dass er gegen den Tönsberg prallte und explodierte.
Russische Kriegsgefangene
Dann wurde es voll auf der Holter Straße. „Lange Kolonnen russischer Kriegsgefangener zogen in östlicher Richtung, langsam und müde schleppten sie sich dahin“, schildert er die ausgemergelten Gestalten, die von einigen Wachleuten begleitet wurden. Bald folgten ihnen die ersten deutschen Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder, die durch Lipperreihe Richtung Osten zogen. „Mit Fahrrädern, Hand- und Pferdewagen“ erinnert er sich. Tag und Nacht war die Straße voller Menschen. Schließlich sah man immer mehr deutsche Soldaten in Wehrmachtsfahrzeugen, die sich zurückzogen. „Auf einmal kam mein Nachbar, der Gastwirt Pollmann“ berichtet Paul Stecker. Deutsche Soldaten hätten ihm Pferde, einen schweren Kutschwagen und den Fahrer August Bentrup weggeholt, um „Heereseigentum abzutransportieren.“Nun aber, am ersten Apriltag, ebbte der Strom der Menschen ab. Es herrschte für einige Stunden vollständige Ruhe. Bald darauf aber hörte der Lehrer ein helles, stärker werdendes Geräusch vieler Motoren aus Richtung Schloß Holte. Das waren offenbar die amerikanischen Panzer. Paul Stecker wanderte weiter allein durchs Dorf zur Panzersperre an der Dalbker Straße. „Ich traf dort noch zwei junge Soldaten mit uralten dänischen Gewehren. Wir unterhielten uns und ich sagte ihnen, die Verteidigung mit solchen Mitteln sei völlig zwecklos“. Langsam ging er zurück zu seiner Wohnung im Schulhaus neben dem Pollmannskrug.
US-Soldaten schellten an der Tür
Als er für den Notfall einige Lebensmittel in einen alten Tornister packte, schellte es plötzlich an der Schultür. Es war soweit: Zwei amerikanische Soldaten standen dort, sie nahmen Stecker in die Mitte und durchsuchten gemeinsam mit ihm die Lipperreiher Schule nach deutschem Militär. Als er dann wieder vors Haus trat, sah er zwischen Schule und Pollmannskrug zahllose US-Soldaten, Panzer waren aufgefahren, alle Nachbarn hatten weiße Fahnen aus den Fenstern gehängt.Zwei amerikanische Offiziere beschlagnahmten die Schule und erklärten Stecker, es kämen 80 Soldaten, die nachts in der Schule schlafen sollten. Vier Tage bleiben die US-Soldaten in der Schule. So lange konnten die letzten deutschen Soldaten in Oerlinghausen im blutigen Häuserkampf den amerikanischen Vormarsch aufhalten. Danach war die Durchfahrt am Tönsberg frei. „Von nun an zogen alle Truppen durch Lipperreihe, ohne sich im Dorf aufzuhalten“, schreibt Paul Stecker. „Doch kaum waren die Amerikaner weitergefahren, da wurde das ganze Land von befreiten Kriegsgefangenen unsicher gemacht. In dieser Zeit nahmen die Diebstähle und Überfälle so zu, dass wir im Dorf Nachtwachen einrichteten – je zwei bis drei Mann mit Knüppeln bewaffnet – gingen wir in der Nacht eine bestimmte Strecke ab.
Doch bald griffen die Amerikaner die umherziehenden Gefangenen auf und fuhren sie in die Lager zurück: Polnische und lettische Gefangene nach Augustdorf, russische Gefangene lebten in der Dalbker Papierfabrik. Die Lebensmittel für die ausgehungerten Gefangenen allerdings verlangten die Alliierten von der Gemeinde. Stecker musste mit den US-Soldaten zu den Bauern, Metzgern und Bäckereien fahren, wo man dann die Lebensmittel beschlagnahmte.
Ein grässliches Unglück passierte während des ständigen amerikanischen Durchmarsches, denn an vielen Stellen in Lipperreihe lagen noch scharfe Granaten herum, mit denen die Kinder an den schönen Frühlingstagen spielten. „Sie hatten ja viel Zeit, denn die Schulen waren geschlossen“, beschreibt Stecker die Tage. „Zwei Jungen der Familie Gottschall und ein Sohn der Familie Wilhelm Jakobskrüger hatten eine Granate gefunden, die in ihren Händen explodierte. Alle drei Kinder starben.“ Ihne Namen sind mit auf den Inschriften am Lipperreiher Ehrenmal zu finden.
Langsam aber begann sich das Leben in den nächsten Wochen wieder zu normalisieren. Es gab Lebensmittelkarten, die allerdings bei weitem nicht zum Leben reichten. Die vielen Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten kamen nun auch nach Lipperreihe. Dabei hatte die Gemeinde noch Glück im Unglück, denn kurz vor Ende des Krieges hatte Major vom Lentzcke von Rittergut Niederbarkhausen das Herrenhaus in Dalbke erworben. Er starb kurz vor Kriegsende, und das große Haus stand leer. Lipperreihes Bürgermeister Prante beschlagnahmte es und konnte dort viele Familien unterbringen.