Oerlinghausen

Das Müller-Jahrhundert in Oerlinghausen

Stadtgeschichte: Die Fabrikantenfamilie Müller, die zwischen 1870 und 1970 die Geschicke der Weberei leitete, brachten die Industrialisierung und Arbeitsplätze nach Oerlinghausen

Alles Müller: Die fünf Söhne des Fabrikanten Bruno Müller. Berthold (v. l.) Roland, Wolfgang, Richard und Georg Müller. Das Bild stammt aus dem Jahr 1916. | © Repro: Horst Biere/ Quelle: Archiv Werner Nowak

25.03.2017 | 25.03.2017, 14:00

Oerlinghausen. Unternehmerfamilien prägen Städte. Die Krupps ihr Essen, die Oetkers ihr Bielefeld, die Mieles ihr Gütersloh. Die Familie Müller hat das frühere Oerlinghausen entscheidend beeinflusst, auch wenn ihre Personen und ihr Wirken heute kaum noch bekannt sind.

Es war der Leinenkaufmann und Unternehmer Carl David Weber, der um 1850 durch Leinenhandel den Grundstein für ein Textilunternehmen legte. Erst sein Schwiegersohn Bruno Müller aber, ein Bielefelder Kaufmann, der 1876 die Weber-Tochter Alwine heiratete, formte mit seinen Söhnen aus dem Leinenhandelsgeschäft einen weltweit bekannten Industriebetrieb mit Hunderten von Arbeitsplätzen in Oerlinghausen: die Weberei. Sie war der Stammsitz eines Firmenverbundes mit 1.500 Mitarbeitern in Spitzenzeiten.

"Bruno Müller war als Schwiegersohn und als Unternehmer ein idealer Partner für Carl David Weber", sagt Werner Nowak, der sich intensiv mit der Firmengeschichte und dem Nachlass der Müller-Familie beschäftigt hat. "Müller galt als kluger, weltoffener Mensch." Noch im 19. Jahrhundert erbaute Bruno Müller für seine Familie mit sechs Kindern das große Haus mit den spitzen Türmen an der Detmolder Straße, die sogenannte Müllerburg - neben dem heutigen gleichnamigen Altenheim.

Bruno Müller war Schütze, Mitglied im Gemeinderat und Feuerwehrmann

Zeit seines Lebens nahm Bruno Müller intensiv am Oerlinghauser Vereinsleben teil. So trat er schon recht bald der Oerlinghauser Schützengesellschaft bei und verantwortete als Kassenwart die Finanzen. Ferner arbeitete Müller für viele Jahre im Oerlinghauser Gemeinderat mit. Gemeinsam übrigens mit seinem Schwager und späteren Firmenpartner Carl Weber jun., genannt "Carlo".

Bruno Müller gilt auch als Modernisierer des Oerlinghauser Feuerwehrwesens. Er zählte zu den Gründungsmitgliedern der neuen Freiwilligen Feuerwehr, die ab 1881 die alte Oerlinghauser "Sprützengesellschaft" ablöste, und wurde für viele Jahre deren "Hauptmann".

Den großen Modernisierungsschub, der auf ganz Oerlinghausen ausstrahlte, brachten allerdings die ältesten Müller-Söhne Georg (1878 - 1954) und Richard (1881 - 1937), die um 1900 ins Unternehmen einstiegen, sowie später Wolfgang (1884 - 1958). Sie waren der festen Meinung, dass Oerlinghausen einen industriellen Webereibetrieb brauchte, um Textilien in großen Mengen und in bester Qualität vor Ort herzustellen. Denn bislang fand das ganze Textilgeschäft mit Handel, Lagerhaltung und einer kleineren Produktion im Ceweco-Gebäude an der Detmolder Straße statt.

"Erst zaghaft, doch dann vernehmlich" so schreibt Chronist August Reuter, "überzeugten sie den alten Kommerzienrat Carl David Weber von der Notwendigkeit einer größeren mechanischen Weberei am Standort Oerlinghausen." 1903 startete das Bauprojekt auf einem riesigen Grundstück an der Bielefelder Straße, das das Unternehmen vom Gut Menkhausen erworben hatte. Nur ein Jahr später lief der Betrieb, der immer mehr Oerlinghausern einen sicheren, wenn auch nicht allzu üppig bezahlten Arbeitsplatz gab.

Doch Familie Müller dachte weiter. Das ganze Umfeld der Weberei wurde modernisiert. Für die Energieversorgung benötigte man mehr Elektrizität. So gab es schon weit vor 1900 immer wieder Anstöße im Gemeinderat, Oerlinghausen zu elektrifizieren. Ein neue Elektrizitätswerk nahm Anfang 1902 seine Stromlieferung auf. Es versorgte einerseits die Maschinen der Weberei und andererseits die Oerlinghauser Straßen und Häuser mit Strom.

Die schnelle An- und Ablieferung der Textilien stellte ebenfalls eine Herausforderung dar. Die Lösung brachte hier die neue Eisenbahnstrecke mit dem Bahnhof in Asemissen. 4.000 Goldmark kamen aus der Firmenschatulle zur Unterstützung des Eisenbahnbaus. Weitere 20.000 Goldmark stellt der Oerlinghauser Gemeinderat dafür bereit - wohl auch auf Betreiben der Fabrikantenfamilien Weber und Müller. Die Weberei entwickelte sich enorm unter dem Management der jüngeren Müller-Brüder. Mit dem richtigen Gespür für die internationalen Märkte produzierte der Betrieb in großem Stil hochklassige Tischwäsche, Bettwäsche und Taschentücher.

Deutschlandweit kannte man auch die Gebrüder Müller - vor allem Georg Müller - durch ihre Arbeit in den Industrieverbänden des Reiches. Auch der jüngere Bruder Wolfgang Müller vertrat recht bald das Unternehmen in nationalen und internationalen Verbänden. Durch seine Fachkenntnisse und seine ausgleichende Art, wählten ihn die Industrievertreter zum Präsidenten des Verbandes der deutschen Leinenindustrie und zum Vorsitzenden der Exportvereinigung der Leinenhersteller.

Zwei Weltkriege überlebte die Weberei relativ unbeschadet und konnte sogar nach 1945 recht schnell wieder starten, denn die Webereichefs standen den Nazis nie besonders nahe. Die Produktion erstreckte sich nicht nur auf das Oerlinghauser Zentralwerk, sondern auch auf Tochterunternehmen in Pivitsheide, Isselhorst, Hattorf am Harz und auch zwischenzeitlich eine Niederlassung in Berlin.

Berthold Müller entwickelte sich zu einem hoch geachteten Bildhauer

Zwei weitere Kinder von Bruno und Alwine Müller spielten im Unternehmen keine Rolle: der 1890 geborene Sohn Roland fiel 1916 im Ersten Weltkrieg. Tochter Marianne trat ebenfalls nicht in den Betrieb ein.

Einen großartigen Ruf aber erlangte der jüngste Sohn Berthold Müller - auf künstlerischem Sektor. In der internationalen Kunstszene avancierte Berthold Müller-Oerlinghausen, wie er sich später nannte, zu einem hoch geachteten Bildhauer, dessen Skulpturen nicht nur in Oerlinghauser Parks, sondern überall auf der Welt zu finden sind. Die dritte Generation der Müllers, der 1920 geborenen Gerd Müller, ein Sohn von Georg Müller, übernahm Anfang der 50er Jahre die Verantwortung für das Unternehmen - zusammen mit anderen Geschäftsführern wie zum Beispiel Edwin Warnecken. Doch die allgemeine Krise in der internationalen Textilwirtschaft führte allmählich zum Abbau der Beschäftigung und zum Niedergang der Weberei. Im Jahre 1974 stellte auch die letzte Webmaschine in Oerlinghausen ihren Betrieb ein.