Oerlinghausen. Der absolute Tiefpunkt war erreicht - damals im April 1945. In der Stunde Null, als die amerikanischen Kampftruppen nach einem sinnlosem Durchhaltekrieg fanatischer Wehrmachtssoldaten die Stadt erobert hatten, blieben viele zerstörte Wohn- und Geschäftshäuser in Oerlinghausen zurück. Alliierte Besatzer nahmen die meisten der noch intakten Gebäude in Beschlag. Hausbesitzer bekamen im eigenen Haus Räume zugewiesen.
Doch nun trat ein neues großes Problem auf: wilde Plünderungen durch die befreiten Kriegsgefangenen. Niemand konnte sich dagegen wehren, denn die ausgehungerten russischen oder polnischen Gefangenen aus den Lagern zogen umher und nahmen sich, was greifbar war. Eine funktionierende Obrigkeit existierte nicht mehr. Erst nach und nach sorgten die amerikanischen Besatzungstruppen dafür, dass die Ausschreitungen nicht überhand nahmen.
Während der Kriegsjahre hatten sich die Oerlinghauser noch durch eigene Hausschlachtungen oder Gemüse aus dem eigenen Garten versorgen können, doch nun lag alles am Boden. Die Hungerzeit begann, da mittlerweile fast alle Vorräte aufgebraucht waren. Hinzu kam die Sorge um die kämpfenden Männer, denn im Osten tobten noch Schlachten. Eine deprimierende, aussichtslos erscheinende Lage - wie übrigens überall im Lande.
Einige tatkräftige Oerlinghauser behielten in diesen schwersten Stunden einen kühlen Kopf und übernahmen Verantwortung für die notleidende Stadt. Den Anfang machte der Webereibesitzer Georg Müller, der am 7. April 1945, etwa eine Woche nach dem Ende der Kampfhandlungen in der Bergstadt, die Oerlinghauser Bürger auf dem Marktplatz zusammentrommelte, um einen Bürgermeister als Verwaltungsspitze zu wählen.
Der weltläufige und sprachgewandte Georg Müller genoss das Vertrauen der amerikanischen Besatzer, denn er hatte es stets verstanden, seinen Webereibetrieb aus dem Dunstkreis der Nazis herauszuhalten. Der frühere Bürgermeister Möller dagegen, der erst durch die Nationalsozialisten ins Amt gekommen war, wurde sofort von den Alliierten in Haft genommen und für zwei Jahre ins Lager gesteckt.
Mit überwältigender Mehrheit wählten die Oerlinghauser durch einfaches Handheben unter freiem Himmel August Reuter zum Bürgermeister. Er war zuvor bis 1933 schon das Stadtoberhaupt gewesen, aber dann von den Nazis aus dem Amt getrieben worden. August Reuter hatte trotz seiner unverhohlen sozialdemokratischen Gesinnung die braune Herrschaft überlebt und wohnte 1945 zurückgezogen in Bad Driburg.
Bäcker holen einen Klumpen Hefe aus Rheda
Mit amerikanischer Genehmigung holten Freunde den 61-jährigen in einem Auto aus seinem Exil ab. Und trotz seiner angegriffenen Gesundheit krempelte August Reuter als vorläufiger Bürgermeister die Ärmel hoch, um die tägliche Not der Bevölkerung zu lindern.
Der Hunger war das größte Problem, denn es gab in diesen Tagen der ganzen Bergstadt kein Brot mehr. Die Oerlinghauser Bäcker wie Diekmann, Wedepohl oder Büker hatte zwar noch einige Reserven an Roggenmehl, aber in diesem Fall fehlte es an Hefe.
August Reuter beschreibt in seinen Aufzeichnungen, wie es Erwin Pott, der damals als Verwaltungsangestellter der Stadt arbeitete, gelang, in einer Nacht- und Nebelaktion die nötige Hefe zu besorgen. Ruth Sandkühler-Böger von der Bäckerei Böger und Erwin Pott fuhren mit Bögers alten Holzvergaser-Auto - versehen mit amerikanischem Passierschein - nach Rheda, weil es dort eine größere Menge Hefe geben sollte. Den beiden gelang es tatsächlich, sich gegen den Strom der endlosen alliierten Militärkolonnen nach Rheda durchzuschlagen, und sie kamen mit einem großen Klumpen Hefe wieder zurück nach Oerlinghausen. Schon am nächsten Tag konnten die Bäcker wieder einen Brotteig ansetzen, die Versorgung der Stadt mit Brot war vorerst gesichert.
Doch fast jede Woche erließ der Bürgermeister nun Aufrufe und Bekanntmachungen, dass die Bevölkerung Wertgegenstände oder Geld abzugeben hätten, denn die Siegermächte der Amerikaner, der Engländer und kurzzeitig auch ein kleinerer norwegischer Besatzungstrupp, verlangten ihren Tribut. So waren Fahrräder, Bettwäsche, Fotoapparate und dergleichen in der Verwaltung abzuliefern.
Auf Plakaten informierte der Bürgermeister die Oerlinghauser über Ausgangsbeschränkungen. Nachts durfte sich kein Bürger auf den Straßen sehen lassen, die Militärbehörden hatten unumschränkte Herrschaft und die Befugnis auf Zivilpersonen ohne Warnung zu schießen.
In flammenden Appellen wandte sich auch Landespräsident Heinrich Drake an die Menschen, um die Lebensmittelversorgung einigermaßen aufrecht zu erhalten. Das Lebensnotwendige wurde ohnehin auf Bezugsscheinen rationiert ausgegeben, doch immer wieder ermahnte die lippische Landesregierung die Bürger, Kartoffel und andere Grundnahrungsmittel selbst anzubauen. Man solle sich trotz der Notlage solidarisch zeigen und sich nicht an fremdem Eigentum vergreifen.
Aber Bürgermeister Reuter war gesundheitlich angeschlagen und durch die knappe Versorgungslage nach Kriegsende verbesserte sich seine Gesundheit nicht. So gab er bereits nach einem Dreivierteljahr auf, und das neugewählte Stadtparlament nominierte Heinrich Kramer zum neuen Bürgermeister. Doch die Notzeit endete damit bei weitem nicht. Es kam die schlimmste Bewährungsprobe für alle Menschen in Deutschland, der Hungerwinter 1946/47.
- In der Edition Neue Westfälische ist das Buch "Hungerwinter 1946/47 in Ostwestfalen-Lippe" erschienen.