Oerlinghausen

Altstadtrundgang: Als in Oerlinghausen die Zigarrenfabrikation begann

Tabak löst Leinen ab

Aus der Konkursmasse: Adolf Reuter kaufte die erste Oerlinghauser Tabakbude und machte daraus eine Schankwirtschaft. | © Sigurd Gringel

Sigurd Gringel
07.08.2015 | 07.08.2015, 11:02
So sah der Arbeitsplatz aus: Es gab Zigarrenwickler und Zigarrensortierer, die im Sitzen arbeiteten. - © Peter Müller
So sah der Arbeitsplatz aus: Es gab Zigarrenwickler und Zigarrensortierer, die im Sitzen arbeiteten. | © Peter Müller

Oerlinghausen. Bürgervillen, Bruchsteinmauern, versteckte Gassen und Stiegen - die Oerlinghauser Altstadt am Tönsberghang weist einen reichen historischen Schatz auf. Diesen will die NW in einem Rundgang mit Stadtführerin Annegret Müller näher bringen.

Die Oerlinghauser Zigarrenfabrikation entwickelte sich als neue Erwerbsmöglichkeit während der Leinenkrise um 1855. Die ehemaligen Leinenhändler, die über Kapital und kaufmännisches Wissen verfügten, gründeten die ersten sogenannten Tabakbuden; kleine Fabrikationsbetriebe, in denen die ehemaligen Spinner und Weber ihre Fingerfertigkeit als Zigarrenwickler einsetzen konnten. Die Arbeit im Sitzen war bequem und glich der früheren Arbeit des Webens.

Im Gebäude der heutigen "Altdeutschen Bierstuben" begannen die Leinenhändler Friedrich und Wilhelm Hölter mit drei Zigarrenmachern. Der Zigarrenverkauf entwickelte sich gut, und sie konnten nach kurzer Zeit 30 Arbeiter beschäftigen. Als Friedrich Hölter nach sieben Jahren sein Kapital aus dem Unternehmen nahm, ging die Zigarrenfabrikation in Konkurs. Das Gebäude der ersten Tabakbude erwarb nach 1862 der Schankwirt Adolf Reuter in einer Versteigerung aus der Hölter-Konkursmasse. Dort eröffnete er eine Schankwirtschaft und einen Kolonialwarenladen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchten die ersten Kolonialwaren in den Lebensmittelgeschäften auf, zum Beispiel amerikanisches Corned Beef, Apfelsinen, norwegische Fischkonserven, peruanischer Guano und holländische Blumensämereien. Mehr Erfolg als die Unternehmer Hölter hatten die Leinenhändler Buckup und Paradies. Sie gründeten um 1862 neben ihren Textilgeschäften jeweils eine "Tabakfabrik". Dafür holten sie qualifizierte Zigarrenmacher und -sortierer nach Oerlinghausen. Diese lernten die heimischen Arbeiter an.

Bei der Herstellung von Zigarren wurde in Oerlinghausen sogenannter guter Tabak verwendet. Da der in Lippe angebaute Tabak keine gute Qualität hatte und eher für den Eigenbedarf angepflanzt wurde, kam der Tabak vermutlich aus Übersee. Er wurde von Bremen über die Weser zum lippischen Weserhafen Erder transportiert. Von dort ging es über die von Fürstin Pauline neu gebaute Chaussee bis nach Lemgo.

Den ersten Zigarrenfabriken in Oerlinghausen folgten weitere, zum Beispiel Sternberg, Elmendorf, Ullrich, Altenbernd, Hölter, Büker, Gronemeyer, Reuter und Schütte. Allein an der Detmolder Straße gab es vier Zigarrenbuden. In ihnen arbeiteten zeitweise 100 Zigarrenarbeiter. Das Zigarrenwickeln blieb den Männern vorbehalten, da die Frauen als Näherinnen in der Wäschefabrikation arbeiteten. Die Zigarren wurden nur vereinzelt in Heimarbeit hergestellt. In den Tabakbuden wurde produziert, sortiert und verpackt, es gab Zigarrenwickler und Zigarrensortierer. Das "Abstruppen" der Tabakblätter, also das Entfernen der Blattrippen, übernahmen überwiegend die Kinder der Zigarrenarbeiter.

Als 1875 der Zigarrenmacher Hermann Ebbinghaus aus Hamburg zurückkehrte, wurde auf den Zigarrenbuden das Zeitunglesen eingeführt. Dadurch sollte die Monotonie der sitzenden, fast geräuschlosen Arbeitsweise unterbrochen werden. Für die Lesezeit befreite man den Vorleser von seiner Arbeit, die anderen Zigarrenarbeiter mussten sein Pensum mitmachen. Da Zeitungen recht teuer waren, wurden diese gemeinsam von einer Zigarrenbude abonniert. Vorgelesen wurde aus dem Berliner "Vorwärts", der Bielefelder "Volkswacht" und anderen sozialdemokratischen Blättern. Anschließend wurde diskutiert und politisiert. Durch diese politische Schulung der Zigarrenarbeiter wurden die Zigarrenbuden zu einer Keimzelle der Sozialdemokratie in Oerlinghausen. Die Zigarrenarbeiter organisierten sich auch in Arbeitervereinen. So gründeten sie im Jahr 1889 den Tabakarbeiter-Unterstützungsverein, eine Selbsthilfeorganisation, die bei Krankheit und in Notsituationen half sowie einen Arbeiterwahlverein. Zur Gründung eines Ortsvereins der Sozialdemokratischen Partei Deutschland kam es im Februar 1906.

Fast 100 Jahre hat die Zigarrenindustrie das wirtschaftliche und politische Leben in Oerlinghausen wesentlich beeinflusst. Die Zigarrenherstellung ging nach dem Ersten Weltkrieg zurück, als mehr Zigaretten geraucht wurden. Die Zigarrenhersteller verfügten nicht über genügend Kapital für die Umrüstung auf die Maschinenproduktion von Zigaretten. Dies bedeutete das Aus für hiesige Tabakbuden. Die Zigarrenarbeiter fanden neue und besser bezahlte Arbeit in den aufkommenden Möbelfabriken.

IN EIGENER SACHE

Mit der Beschreibung der Zigarrenindustrie beenden wir vorerst den Altstadtrundgang durch Oerlinghausen. Geographisch haben wir uns vom Rathaus zur Post und zur Melmschen Apotheke begeben, einmal nach links und einmal nach rechts geschaut. Stadtführerin Annegret Müller hat natürlich noch mehr Themen vorbereitet, die sie auf ihren Rundgängen anhand von Gebäuden erzählt. Zum Beispiel Tourismus, Gerichtswesen, Brauwesen oder Religion. Mehr Historie gibt es in unseren Serie "Stadtgeschichte" und "Geschäfte mit Geschichte".

Information

Blick in die Blütezeit

Die Serie basiert auf dem Konzept von Stadtführerin Annegret Müller, gibt aber nicht den kompletten Inhalt der Führung wieder.

Bei ihrem „Historischen Stadtrundgang“ erzählt sie die Geschichte der Altstadt insbesondere vom 19. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, Oerlinghausens Stadtwerdung und „Blütezeit“.

Die Führungen bietet sie für Gruppen bis zu 20 Teilnehmern an und richtet sich auch nach Wünschen der Gruppe.

Infos im Bürgerbüro unter Tel. (0 52 02) 493 12.