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Kreis Lippe. Anderthalb Jahre nach dem Urteil gegen die Haupttäter im Missbrauchsfall Lügde haben die vielen Opfer noch immer keine Entschädigungen erhalten. 61 Anträge sind beim zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) bisher zum Lügde-Komplex eingegangen. Sie werden derzeit geprüft, teilt der LWL mit. Das Groteske: Während Betroffene auf finanzielle Hilfen warten, bekommen Zeugen im Untersuchungsausschuss des Landtags NRW von den zuständigen Behörden kostenlos Anwälte gestellt und erhalten ebenfalls einen Anspruch auf Supervision. Und das, obwohl die meisten Mitarbeitenden aus dem Jugendamt Hameln-Pyrmont gar nicht erst aussagten. Für die Opferfamilien sei das ein herber Schlag ins Gesicht, sagt Opferhelferin Dagmar Bothe vom Weißen Ring. Sie hat allein 14 betroffene Familien in Lippe betreut. "Das ist ein Skandal im Skandal" "Man ist nur noch perplex, was da passiert", macht Dagmar Bothe deutlich. Schließlich müsse man sich dessen bewusst sein, dass auch die Opfer-Familien die Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss verfolgen. "Viele belastet das sehr – und uns bleibt nur noch Kopfschütteln." Der Hamelner Opferanwalt Roman von Alvensleben, der das Mädchen vertritt, das den Fall überhaupt erst ins Rollen brachte, geht sogar noch einen Schritt weiter. "Das ist ein Skandal im Skandal", meint von Alvensleben: "Die Behörden, die ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Kindern jahrelang vernachlässigt haben, berufen sich jetzt auf ihre eigene, um Mitarbeiter zu schützen." Dabei seien es die Familien, die endlich finanzielle und therapeutische Unterstützung bräuchten. "Man sollte sich die Anwaltshonorare sparen und das Geld einfach den Opfern spenden." Sowohl der Kreis Lippe als auch der Landkreis Hameln-Pyrmont berufen sich in diesem Zusammenhang auf die Fürsorgepflicht als Arbeitgeber ihren Mitarbeitern gegenüber. Rein rechtlich ist dagegen auch nichts einzuwenden, teilt der Landtag NRW auf Anfrage mit. "In der Vergangenheit wurde die Begleitung von Zeuginnen und Zeugen durch einen Rechtsbeistand während ihrer Vernehmung vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss grundsätzlich gestattet", heißt es dazu von Pressesprecher Stephan Melessa. Für Beteiligte und Vertreter der Opfer aber schwingt hier eine moralische Komponente mit. "Wer die Aussage verweigert und sich damit der Aufklärung in den Weg stellt, kann sich im Anschluss auf Staatskosten direkt psychologisch auffangen lassen, das ist gruselig", sagt Rechtsanwalt Roman von Alvensleben. Supervision ist Standard Der Landkreis Hameln-Pyrmont betrachtet die Argumente des Hamelner Anwalts als "Versuche einer verbalen Skandalisierung der aus Fürsorgepflicht erbrachten Leistungen" und weist das in einer Stellungnahme vehement zurück. Die Befragung durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss sei nicht zuletzt durch den öffentlichen Druck eine enorme Stresssituation für die Mitarbeiter, "mit der niemand in seinem Berufsleben konfrontiert sein wolle". Zudem akzeptierten laut Landkreis Hameln-Pyrmont viele immer noch nicht die entlastenden Ergebnisse der Detmolder Staatsanwaltschaft und suchten daher weiter nach Schuldigen. "Der Landkreis sieht es deshalb als seine Pflicht an, seinen Mitarbeitenden in dieser Extremsituation auch gegebenenfalls mit einer Supervision zur Seite zur stehen", teilt Pressesprecherin Sandra Lummitsch mit. Eine Supervision sei zudem generell Standard, um die Arbeitsfähigkeit in betreffenden Berufsfeldern zu erhalten. Seitens der lippischen Kreisverwaltung hat von elf geladenen Zeugen bloß eine Person den ihr zustehenden Anwalt in Anspruch genommen, teilt der Kreis Lippe mit. Im Nachbarkreis Hameln-Pyrmont sieht das schon anders aus. Von elf geladenen Zeugen hätten sieben nach Angaben von Pressesprecherin Sandra Lummitsch einen Anwalt an der Seite gehabt. Das Stundenhonorar liege bei 230 Euro, ähnlich verhält es sich im Kreis Lippe. Am Rande: Das Honorar ist mit dem durchschnittlichen Verdienst eines Pflichtverteidigers vergleichbar. Wie viele Zeugen aus dem Hamelner Jugendamt die Aussage verweigerten, ist dem Landkreis nach eigenen Angaben nicht bekannt. Daran erinnern kann sich jedoch der lippische SPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Berghahn, der ebenfalls im Untersuchungsausschuss sitzt. "Eigentlich haben nur die vollumfänglich ausgesagt, die inzwischen nicht mehr beim Jugendamt Hameln-Pyrmont beschäftigt sind", sagt Berghahn. Und das seien der Ex-Jugendamtsleiter und eine weitere Mitarbeiterin, die beide nach dem Vorwurf der Aktenmanipulationen ihren Platz hatten räumen müssen. Die anderen Befragungen seien durch die anwesenden Anwälte sehr schwerfällig gewesen und hätten daher nicht zur weiteren Aufklärung beigetragen. Vom Koffer fehlt immer noch jede Spur Neben den Jugendamtsmitarbeitern mussten auch Polizisten vor dem Untersuchungsausschuss aussagen. Das Land NRW hat den als Zeugen geladenen lippischen Polizeibeamten und -beamtinnen nach Angaben der Kreispolizeibehörde Lippe keinen Rechtsbeistand finanziert. Gegen einige war während des Lügde-Verfahrens ebenfalls ermittelt worden, weil diese unter Verdacht standen, Hinweise auf den Haupttäter nicht ordentlich behandelt zu haben. Daneben fehlt noch immer jede Spur von dem mit 155 Datenträgern bestückten Koffer, der aus dem Polizeigebäude verschwand. Bisher haben zwölf lippische Polizisten ausgesagt, darunter sind einige bereits im Ruhestand. Eigentlich hatte sich der PUA Lügde schon längst mehr der Polizeiarbeit widmen wollen, sagt Jürgen Berghahn. "Doch immer wieder ploppen neue Hinweise auf, denen wir nachgehen müssen." Aktuell steht das Jugendamt Höxter im Fokus. Das Kapitel Jugendamt sei längst nicht abgeschlossen. Akten liegen erst seit Dezember 2020 vor Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat nach eigenen Angaben im Zusammenhang mit dem Fall Lügde 38 Anträge auf Opferentschädigung aus OWL sowie 23 weitere aus anderen Regionen erhalten. Zu den 38 Anträgen aus OWL habe der LWL erst im Dezember 2020 die dazugehörigen Fallakten von der Detmolder Staatsanwaltschaft erhalten. Weshalb das so lange gedauert hat, kann der LWL nicht beantworten, man habe direkt nach Eingang der Anträge Akteneinsicht beantragt. Auch die Staatsanwaltschaft hat dafür laut Sprecher Ralf Vetter keine Erklärung. "Gerade in solchen Fällen bleibt das bei uns nicht liegen", sagt der Oberstaatsanwalt. Dennoch warten Opfer auch noch anderthalb Jahre nach dem Urteil auf finanzielle Entschädigungen. Nur in Einzelfällen seien laut LWL Traumaambulanzen in Anspruch genommen worden. Opferhelferin Dagmar Bothe hat dazu eine simple Begründung: "Es ist damals so vieles nicht optimal gelaufen, was den Fall Lügde angeht. Das zieht sich jetzt weiter durch." Dabei seien lange Wartezeiten bei Opferentschädigungsanträgen generell keine Seltenheit. "Antrag ist kompliziert" "Die Bearbeitung dauert mindestens anderthalb Jahre", weiß Dagmar Bothe aus Erfahrung. 60 Prozent der Anträge würden in der Regel sowieso abgelehnt. "So ein Antrag ist kompliziert. Man braucht Belege, Beweise, Zeugen – und alles wird gründlich geprüft", sagt die Opferhelferin. Was die Lügde-Kinder angehe, sollte aber eigentlich alles klar sein, meint Bothe. Doch die Verurteilungen alleine reichen laut LWL eben nicht aus. Das Amt müsse "die individuellen Folgen der Schädigung für jedes einzelne Opfer ermitteln". Im Einzelfall seien Informationen über konkrete Tatabläufe erforderlich und zwar auch für die Fälle, die aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht angeklagt bzw. abgeurteilt werden konnten. Auch eine medizinische Sachverhaltsaufklärung sei unabdingbar.

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