Medizinischer Experte im Interview: „Cannabis kann auch Gutes leisten“

Die Ampelkoalitionäre haben in den Verhandlungen für eine neue Regierung durchblicken lassen, dass sie Cannabis generell legalisieren und die Regeln zum Erwerb und zur Anwendung deutlich vereinfachen möchten. Die Entwicklungen beobachten Sie als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin, die ihren Sitz ja in Steinheim hat, vermutlich gerade ganz genau? Franjo Grotenhermen: Ja, wir sind sehr gespannt. Welche Faktoren wären es denn, die die Nutzung von Cannabis als Medizin vereinfachen könnten? Ganz allgemein kann man sagen, dass die Verschreibung von cannabisbasierten Medikamenten, da sprechen wir von THC-haltigen Medikamenten, für Kassenärzte unter den gegenwärtigen rechtlichen Rahmenbedingungen nicht attraktiv ist. Das führt dazu, dass viele Kassenärzte solche Medikamente grundsätzlich nicht verschreiben. Viele Patienten sind daher dazu gezwungen, privat für ihr Medikament zu zahlen und auch Privatärzte zu bezahlen. Das ist ein Zustand, der heute nicht mehr so sein sollte. Viele Patienten können sich Cannabis aus der eigenen Tasche nicht leisten. Eine solche Therapieoption sollte aber nicht vom Geldbeutel abhängen, sondern von der Frage, ob eine solche Therapie notwendig ist. Ärzte in der Regress-Zwickmühle Warum ist es für Kassenärzte nicht attraktiv, cannabisbasierte Medikamente zu verschreiben? Ärzte müssen cannabisbasierte Medikamente verschreiben können, wenn es notwendig oder sinnvoll ist für den Patienten – und dann muss es von den Krankenkassen auch bezahlt werden. Darüber hinaus gibt es noch ein weiteres Problem. Die ärztliche Behandlung unterliegt in Deutschland dem Wirtschaftlichkeitsprinzip. Das heißt, Ärzte müssen eine Therapie anbieten, wenn diese genauso wirksam ist wie die teure Wenn das nicht der Fall ist, können Krankenkassen die Ärzte in Regress nehmen und der Arzt muss dieses Medikament aus eigener Tasche zahlen. Es hat schon Regresse in bis zu sechsstelliger Höhe wegen einer angeblich nicht notwendigen Cannabistherapie gegeben. Das schreckt natürlich viele Kassenärzte ab. Was also muss passieren? Die Regressdrohungen gegenüber Ärzten, die Cannabis-Medikamente verschreiben, müssen beendet werden. Diese Forderung wird mittlerweile von vielen Politikern unterstützt. Aber auch die Kosten für Cannabisblüten müssen gesenkt werden. Cannabis wird in Deutschland als Rezepturarzneimittel behandelt, da kommt in der Abrechnung ein hundertprozentiger Aufschlag durch die Apotheken auf den Einkaufspreis drauf. Wir möchten, das cannabisbasierte Arzneimittel wie ein Fertigarzneimittel behandelt wird, wie das etwa in den Niederlanden gemacht wird, wo die gleichen Medikamente nur ein Drittel kosten. Ein Fertigarzneimittel ist? Etwa Aspirin wäre ein klassisches Fertigarzneimittel. Die haben einen Festpreis. Bestehende Ausnahmeregelungen für den Straßenverkehr Gibt es in Deutschland schon Beispiele dafür, dass ein Rezepturarzneimittel wie ein Fertigarzneimittel abgerechnet wird, obwohl es das nicht ist? Nein, die gibt es nicht. Und das ist auch das Argument der Apotheker. Sie sagen, sie wollen keinen Sonderfall schaffen. Aber das ganze Cannabisgesetz ist ein Sonderfall. Wieso soll man nicht einen Sonderfall schaffen, wenn es sinnvoll ist? Wir machen in der Politik immer Ausnahmen, wenn die Regel nicht sinnvoll ist. Eine solche Ausnahme bräuchte es dann auch etwa im Straßenverkehr? Nein, eigentlich nicht. In Paragraf 24a des Straßenverkehrsgesetzes steht bereits drin, dass die Teilnahme am Straßenverkehr unter dem Einfluss von Drogen verboten ist – es sei denn, es handelt sich um ein für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenes Arzneimittel. Das gilt für Opiate, das gilt für alle Medikamente. Dann gibt es die Fahrerlaubnisverordnung und da steht drin, dass die missbräuchliche Verwendung von Medikamenten vom Verkehr ausschließt. Die Ausnahme ist also schon da? Es gibt Patienten, die können unter einer Cannabistherapie nie am Straßenverkehr teilnehmen, weil sie immer beeinträchtigt sind. Es gibt andere Patienten, die können ihre Medikamente nur abends einnehmen – und am nächsten Tag sind sie wieder fit, wenn die Nacht dazwischen ist. Das gilt aber auch für andere Medikamente, die nicht cannabisbasiert sind, genauso. Es gibt aber Patienten, die nehmen cannabisbasierte Medikamente ein und können am Straßenverkehr teilnehmen. Das ist immer individuell zu beurteilen, wie man das bei anderen Medikamenten auch macht. Aber so steht es doch schon im Gesetz? Ja, es steht schon im Gesetz, dass Cannabis wie andere Medikamente behandelt werden soll. Viele Führerscheinstellen und MPU-Stellen tun sich aber noch schwer, zwischen Freizeitkonsum von Cannabis und medizinischer Verwendung zu unterscheiden. Mit vielen MPU-Stellen läuft es gut, da gibt es mit meinen Patienten normalerweise überhaupt keine Probleme. Aber es gibt Stellen, bei denen es Patienten schwer haben, fair behandelt zu werden. Differenzierte Betrachtung bei Anwendung von Cannabis Was braucht es? Es braucht von Seiten der Behörden eine Handlungsanweisung für Führerscheinstellen und MPU-Stellen. Da muss klar drinstehen, wie mit Cannabispatienten umzugehen ist. Wen betrifft das denn? Es gibt Krankheitsbilder, wie Blindheit, da kann man nicht am Straßenverkehr teilnehmen. Es gibt aber viele Patienten, wie Epileptiker, die können durch cannabisbasierte Medikamente erst wieder am Straßenverkehr teilnehmen, weil sie dadurch keine Anfälle mehr haben. ADHS-Patienten können ohne Behandlung oft nicht am Straßenverkehr teilnehmen, die sind so unruhig und impulsiv, die können normalerweise nicht optimal am Straßenverkehr teilnehmen. Wenn sie Cannabis gegen ihre Erkrankung einnehmen und es im konkreten Fall auch wirksam ist , sind sie gelassener und konzentriert und können besser am Verkehr teilnehmen. Die Anwendungsmöglichkeiten sind also sehr vielfältig. Es gibt fünf große Bereiche für Cannabis als Medizin, das wichtigste sind Schmerzerkrankungen aller Art. Cannabis wirkt bei etwa einem Drittel der Fälle chronischer Schmerzen. Der zweite Bereich sind neurologische Erkrankungen, wie beispielsweise Epilepsie oder Spastik bei Multipler Sklerose. Der dritte Bereich sind Appetitlosigkeit und Übelkeit bei HIV- oder Krebspatienten, es steigert den Appetit und reduziert die Übelkeit. Der vierte Bereich sind chronisch-entzündliche Erkrankungen, etwa rheumatische Arthritis, es wirkt entzündungshemmend. Der nächste große Bereich sind psychiatrische Erkrankungen. Da war man früher immer sehr vorsichtig, weil man sagte, Cannabis kann psychiatrische Erkrankungen hervorrufen. Heute differenzieren wir das und wir sehen bei bestimmten Erkrankungen gute Erfolge mit Cannabis und bei anderen sollte man es nicht einsetzen. Gute Wirkung sehen wir etwa bei ADHS, posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Angststörungen. Würden sie annehmen, dass die Medikamente durch die Vereinfachungen, die möglicherweise im Koalitionsvertrag stehen werden, häufiger verschrieben werden? Ja, das hoffe ich. In Israel bekommen über ein Prozent der Patienten Cannabis verschrieben. In Deutschland sind es weniger als 0,1 Prozent, also deutlich weniger als das, was medizinisch nötig wäre. Dabei geht es eigentlich um die optimale gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung. Es geht also primär nicht um Cannabis, sondern um die Gesundheit der Patienten. Teilweise können Patienten durch cannabisbasierte Behandlung wieder aus Hartz 4 raus, sie können wieder arbeiten gehen. Das ist volkswirtschaftlich ein wichtiger Aspekt, dass die Leute weniger Schmerzen haben, ich habe Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen, die machen dank der Behandlung ihr Abitur nach, gehen studieren. Die können dann wirklich wieder produktiv sein, während sie vorher nicht dazu in der Lage waren. Fehlte Cannabis bislang die Lobby? Es ist noch nicht überall richtig angekommen, was Cannabis auch Gutes leisten kann. Das wird oft vergessen. Es gibt oft immer noch diese Vorurteile, so dass es in der Medizin nicht in dem Maße eingesetzt wird, wie es sinnvoll und notwendig wäre. Wir haben so viele Menschen in Deutschland, die mit den verfügbaren Medikamenten nicht ausreichend therapiert sind, das sehe ich ja jeden Tag in meiner Praxis. Dann ist Cannabis eine zusätzliche Möglichkeit. Es wirkt wie gesagt nicht immer, aber da, wo es hilft, sollten wir diese Möglichkeit nutzen können. Da gibt es nur Gewinner.

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