Ärger mit dem Pflegegrad: Das raten Experten aus dem Kreis Höxter Betroffenen

Kreis Höxter. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte kürzlich noch von einer &bdquo;explosionsartig gestiegenen Zahl der Pflegebedürftigen“ gesprochen. Eine Recherche der &bdquo;Neuen Westfälischen“ zeigt, dass die Zahl der Anträge auf einen Pflegegrad auch im Kreis Höxter deutlich zugenommen hat. Nicht immer führt der Antrag allerdings dazu, dass der Pflegegrad bewilligt wird, den sich Betroffene und Angehörige vorgestellt haben. Damit die Chance auf Anerkennung des notwendigen Pflegegrades wächst, sollten einige Dinge beachtet werden, weiß ein Experte aus dem Kreis Höxter. Die Zahl ist deutlich gestiegen: Während im Jahr 2014 noch 4.187 Pflegebegutachtungen durchgeführt worden sind, waren es 2019 schon 4.352. Mit 6.519 Begutachtungen erreichte die Zahl im Jahr 2024 ihren bisherigen Höchststand. Anhand der Begutachtung wird festgestellt, ob und wie stark jemand pflegebedürftig ist. Sie entscheidet darüber, ob und in welcher Höhe Pflegeleistungen in Anspruch genommen werden können. Dass eine solche Begutachtung eine Hürde darstellen kann, weiß der Bad Driburger Thomas Cillessen aus eigener Erfahrung. Er ist Rollstuhlfahrer mit Pflegegrad 4 und appelliert an alle Betroffenen: &bdquo;Geht nie allein in ein solches Gespräch. Nehmt jemanden mit – als Zeugen und als Unterstützung.“ In seinem Fall wurden wichtige Details für die Einordnung des Pflegegrades übersehen, was zu einer gänzlich anderen Bewertung geführt hatte. Lesen Sie auch: Pflegenotstand in OWL: Diese Orte trifft es am härtesten Pflegegrad: Im schlechtesten Fall deutlich weniger Geld Für Betroffene kann eine falsche Einordnung durch die Gutachter fatale Folgen haben. Wer einen zu niedrigen Pflegegrad erhält, bekommt weniger Unterstützung: kein Geld für Pflegehilfen, weniger Entlastungsangebote, eingeschränkter Zugang zu barrierefreiem Wohnraum. Es geht um viel. Allein an Geldleistungen sind die Unterschiede immens: Während der Pflegegrad 1 gar keinen Geldzuschuss erhält, bekommt Pflegestufe 5.990 Euro. Dazu kommen Sachleistungen in Höhe von bis zu 2.299 Euro, wer Pflegegrad 1 hat, bekommt nichts. Ähnliches Bild bei den Zuschlägen für die Tages- und Nachtpflege, die im Fall von Pflegestufe 1 nicht gezahlt werden, den Höchstsatz von 2.085 Euro gibt es für Pflegegrad 5. So können Angehörige bei der Begutachtung helfen Wenn Pflegegrad 5 anerkannt werden soll, sind 90 bis 100 Bewertungspunkte nötig. Diese vergibt der medizinische Dienst der Krankenkassen. In den Augen von Cillessen sind gerade Menschen mit unsichtbaren Einschränkungen – etwa neurologischen Ausfällen, chronischer Erschöpfung oder kognitiven Problemen in der Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. &bdquo;Deshalb muss jemand da sein, der die Situation kennt und sie bezeugen kann“, rät er. Olaf Plotke, Sprecher des zuständigen Medizinischen Dienstes in Westfalen-Lippe, stellt auf Nachfrage der &bdquo;Neuen Westfälischen“ klar, dass Angehörige und Pflegepersonen &bdquo;sogar explizit darum gebeten“ werden, sich an der Begutachtung zu beteiligen: &bdquo;Sie helfen mit ihren Aussagen und Hinweisen unseren Pflegefachkräften, sich ein umfassendes Bild von der Situation der pflegebedürftigen Person zu machen“. Ebenfalls lesenswert: Notlage in der Pflege: Hunderte Pflegebedürftige werden im Kreis Höxter abgewiesen Forderung: Pflegegutachter sollen Gespräche aufzeichnen Bei der Begutachtung stellen die Gutachterinnen und Gutachter fest, wie selbstständig die Person ihren Alltag gestalten kann und wobei sie Hilfe benötigt. &bdquo;Unsere Pflegefachkräfte geben im Gutachten auch Empfehlungen ab, wie die individuelle Situation verbessert werden kann, etwa durch eine Rehabilitation oder durch ein Hilfsmittel“, sagt der Sprecher. Das könne etwa ein Rollator oder ein Stuhl für das Duschen sein. &bdquo;Vielleicht ist es auch notwendig, das Wohnumfeld anzupassen“, erklärt Plotke. In Cillssens Augen sollte bei den Gutachten der Pflegebedürftige im Mittelpunkt stehen: &bdquo;Es geht um Lebensqualität und um Würde“, sagt Cillessen und wünscht sich deshalb grundsätzliche Veränderungen am System der Pflegeeinstufung: &bdquo;Die Gutachter sollten verpflichtet sein, Gespräche ausführlich zu dokumentieren – am besten mit Zustimmung der Betroffenen auch per Audioaufnahme. So ließen sich spätere Missverständnisse vermeiden.“ Passend zum Thema: Tagespflege für Senioren: Eine Willebadessener Einrichtung erklärt und berät Diese Mittel gibt es, um gegen das Pflegegutachten vorzugehen Plotke verteidigt das bisherige Vorgehen: &bdquo;Wer mit der Entscheidung nicht einverstanden ist, kann dieser widersprechen.“ Der Widerspruch sei an die Pflegekasse zu richten. &bdquo;Die Widerspruchsbegutachtung wird dann von einer anderen Pflegefachkraft durchgeführt“, betont er. Sind Versicherte mit dem Ergebnis des Widerspruchsverfahrens nicht einverstanden, könnten sie sich erneut an die Pflegekasse wenden, &bdquo;und diese entscheidet, ob der Fall in ihren Schlichtungsausschuss geht“. Wenn Versicherte mit der Arbeit des Medizinischen Dienstes nicht einverstanden sind, so der Sprecher, können sie sich jederzeit &bdquo;an unser internes Beschwerdemanagement sowie an unseren Ombudsmann wenden“. Und: Wer danach weiterhin mit dem Ergebnis nicht einverstanden ist, &bdquo;hat die Möglichkeit, vor das Sozialgericht zu ziehen“. So verteidigt der Medizinische Dienst sein Vorgehen Unter dem Strich sieht der Sprecher des in Münster ansässigen Medizinischen Dienstes die Gutachter aber gut aufgestellt: Die Widerspruchsquote in Westfalen-Lippe liege seit Jahren nur bei rund acht Prozent. Cillessen sieht dennoch Verbesserungsbedarf. &bdquo;Die Pflegebedürftigen in Deutschland verdienen Respekt, Fairness und eine Stimme. Die Begutachtungen müssen im Sinne der Menschen erfolgen – nicht im Sinne der Kosteneinsparung“, fordert er. Plotke verweist auf Befragungen von Versicherten, wonach eine Mehrheit der Befragten mit der Pflegebegutachtung &bdquo;voll zufrieden“ seien. Er betont zudem die Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes: Er verfolge weder eine Agenda der Politik noch der Krankenkassen, um Kosten zu senken. 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