Höxters widersprüchliche Persönlichkeit wird 150 Jahre alt

Höxter. &bdquo;Du kannst also als Deutscher mit Verachtung auf dieses Gesogs herabblicken, aber hüte dich vor ihnen! Als deutscher Soldat stehst du hoch über diesem Gesindel! Am französischen Volk kann man den moralischen und biologischen Niedergang eines Volkes beobachten! Sie verdienen ihr Schicksal doppelt und dreifach!“ Worte eines Vaters an seinen Sohn in der Flieger-Ausbildung, geschrieben im Dezember 1943, als viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche lagen und die Sowjetarmee unaufhaltsam auf das deutsche Reich zurückte. Wer war dieser Friedrich Wilhelm Bratvogel, dem die Stadt Höxter als stellvertretenden Bürgermeister in Höxter und Rektor der evangelischen Bürgerschule sogar einen Straßennamen widmete? Sein gleichnamiger Enkelsohn, Friedrich W. Bratvogel, ging auf eine jahrelange intensive Spurensuche und hat zum 150. Geburtstag seines Großvaters, der am 25. November 1874 geboren wurde, eine spannende und überaus lesenswerte &bdquo;Biografie eins deutschen Kleinbürgers“ geschrieben. Sie gibt bemerkenswerte Einblicke in die provinzielle und bisweilen engstirnige Höxteraner Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeichnet differenziert den Lebensweg eines Mannes nach, der nationalsozialistische Überzeugung, beharrliche Fürsorge für Familie und ärmere Schüler und den leidenschaftlichen Schutz der Natur und Heimat in sich vereinte. Ein Werk, das sicherlich auch den heimischen Geschichtsunterricht über diese dunkle Zeit noch interessanter machen könnte. Bratvogel ist beispielhaft für kleinbürgerliches Leben in Höxter Denn es geht dem Autor, der selbst Geschichte studierte, in Sozialökonomie promovierte und nach Lehrtätigkeiten an der Uni Bielefeld 15 Jahre lang Direktor des Engelbert-Kaempfer-Gymnasium war, gar nicht so sehr um den Lebensweg des Opas an sich. &bdquo;Für mich war es eine Person, die stellvertretend für viele steht. Es geht mir um einen typischen Vertreter dieser Sorte. Leute, die angesehen waren in der Stadt, die eigentlich ein ganz normales bürgerliches Leben geführt haben und dann doch derartig in diesen braunen Sumpf abgerutscht sind.“ Lesen Sie auch: Höxter Verdrängte Geschichte neu aufgelegt Bratvogel steht für viele Höxteraner seiner Zeit. Geboren wurde er am 25. November 1874 als einziger Sohn eines Leinewebers. Höxter war längst nicht mehr die blühende Kleinstadt, sondern geprägt von einer wechselvollen ökonomischen Entwicklung und beeinflusst von heftigen kriegsbedingten Störungen. Es gab deutlich abgegrenzte soziale Milieus. &bdquo;Demgegenüber bewirkte der starke Zusammenhalt in Familien und Freundeskreisen eine sichere Privatsphäre. Die ungeteilte Wertschätzung von Natur und Geschichte verband die Höxteraner und machte sie resistent gegen allzuweitreichende Erneuerungen“, schreibt der Autor. Treuer Untertan, der gehorsam seine Plicht erfüllt Der junge Bratvogel wächst in einer Zeit auf, in der der treue Untertan gehorsam seine Pflicht erfüllt. Ein Selbstverständnis, dem auch Friedrich Wilhelm Bratvogel nacheifert. Er gilt in der Schule als fleißig und strebsam, begann schon mit 15 Jahren in der Präparandenanstalt in Soest die Vorbereitung auf die Ausbildung zum Volksschullehrer, die er mit 21 Jahren am Lehrerseminar in Gütersloh abschloss. Typisch für seine Zeit: die männliche Unselbstständigkeit. So bat seine &bdquo;dich liebende“ Halbschwester Luise den 21-Jährigen, er möge doch seine Wäsche samt Bettbezug zur Reinigung nach Höxter schicken. Sie habe dafür schon Regenwasser gesammelt – und die Weihnachtswoche sei ihr zu knapp zum Wäsche waschen. Sie wolle es sich dann auch gern ein bisschen gemütlich machen. Er habe seine persönlichen Angelegenheiten nicht wirklich allein regeln können, schreibt sein Enkel. Bratvogel kehrt nach 26 Jahren zurück nach Höxter Im Jahr 1900 kehrte er als Lehrer an die evangelische Bürgerschule in Höxter zurück – ohne je Militärdienst geleistet zu haben, weil er nach der Schulzeit zu jung, und nach der Ausbildung zu alt war. Er bedauerte das öfter. Nachdem sein – gleichnamiger – Vater 1906 starb, begannen Mutter und Halbschwester ihn zu einer Hochzeit zu drängen. Immerhin war Friedrich Wilhelm Bratvogel inzwischen 32 Jahre alt und es wäre auch für seine soziale Stellung von Bedeutung. Es dauerte allerdings sechs weitere Jahre, bis er, animiert von seinem Freundeskreis, Margarete Weißmann aus Blankenburg heiratete. &bdquo;Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, die Zuneigung entwickelte sich erst allmählich“, schreibt der Enkel. Nach außen harmonisch und konventionell korrekt sei die Ehe. Heißt: Die Belastungen der Geburt und Beziehungen von fünf Kindern sowie weiterer Fehlgeburten, &bdquo;dazu Haushalt, Garten und Feld mussten vorwiegend von Margarete getragen werden, so dass sich ihre physische und psychische Verfassung zusehends verschlechterte.“ Sie sei erschreckend schnell gealtert. Und ihr Mann? &bdquo;Friedrich war vor allem seinen beruflichen Verpflichtungen und seien vielseitigen Interessen zugetan. Seinem Wesen nach bedeuteten ihm die freundschaftlichen Beziehungen zu vielen Höxteranern, die Naturheilkunde, die Schule und seine Hobbys immer sehr viel.“ Höxteraner mit Begeisterung für NS-Rassenkunde Und sein politisches Engagement. Schon 1907 wurde er Vorsitzender des Arbeitervereins und setzte sich mit Nachdruck für die Versorgung von Bedürftigen mit Lebensmitteln und Wohnraum ein. 1924 wurde er Mitglied im Stadtrat, am 1. Mai 1933 trat er – inzwischen Rektor der Bürgerschule – in die NSDAP ein. Denn als Lehrer war seine Mitgliedschaft im NS-Lehrerbund verpflichtend. &bdquo;Als Rektor war es für Bratvogel selbstverständlich, diesen Verpflichtungen nachzukommen. aus Überzeugung ließ er sich 1933 aber auch zum Kreisssachbearbeiter im NS-Lehrerbund ernennen.“ Lesen Sie auch: Zum Tode von Ernst Würzburger: unbeirrbare Stimme für Freiheit und Demokratie Von 1933 bis zum altersbedingten Ausscheiden aus den politischen Ämter im Jahr 1935 war er auch Stellvertreter des Bürgermeisters. Er hatte auch danach viele weitere Funktionen und Ehrenämter inne. &bdquo;Dieses umfangreiche Tätigkeitsprofil belegt eindrucksvoll, dass er sich nicht notgedrungen mit dem NS-System arrangierte, sondern ihm mit Eifer und Begeisterung so viel als möglich diente“, schreibt sein Enkel. Stolz sei der Großvater gewesen, bis 1939 alle vier Söhne bei der SS untergebracht zu haben. Nach dem Weltkrieg selbstmitleidiges Wegschauen Es sei aber keineswegs notwendig, unausweichlich oder unvermeidlich gewesen, sich derart zu exponieren. Als Beispiel nennt der Autor den Sohn Fritz, der sich gegenüber der NS-Ideologie sehr passiv verhielt, &bdquo;von seinem Vater dafür aber nur bedingt gelitten wurde.“ Nach dem Krieg und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches habe Bratvogel das beredete Schweigen und selbstmitleidige Wegschauen mit der großen Mehrheit seiner Mitbürger geteilt, schreibt sein Enkel. Der hat seinen Großvater nie kennengelernt, denn der starb im März 1952, als der Autor ein Jahr alt war. Es gebe ein Foto, auf denen sie gemeinsam zu sehen sind. Erinnern könne er sich natürlich nicht. &bdquo;Ich habe das auch als Chance empfunden.“ Denn sonst bestehe die Gefahr, nur positives über seinen Opa zu erzählen. Er räumt aber ein, dass die kritische Distanz, die in der Biografie sehr deutlich wird, nicht überall in seiner Familie gut ankam. Einsatz für Naturschutz und Heimatpflege in Höxter Begonnen hat die Arbeit übrigens eher zufällig. Die Beschränkungen der Corona-Pandemie ließen auch den Enkel und seine Schwester damit beginnen, endlich mal im Keller aufzuräumen. Dabei sind sie auf umfangreiche Familienarchivalien gestoßen, die der Vater aufbewahrt hatte – insbesondere Briefe. Enkel Friedrich Bratvogel begann, sie zu ordnen, transkribieren und digitalisieren. Das nahende Jubiläum bestärkte den Historiker, eine Biografie zu schreiben. Herausgekommen sind 80, vor allem für Höxteraner lesenswerte Seiten über eine &bdquo;vielseitig begabte, aber auch widersprüchliche Persönlichkeit.“ Denn in &bdquo;seiner Liebe zur Heimat und einem Wissen um die Flora des Weserraumes liegen sicherlich die größten Verdienste“ Friedrich Wilhelm Bratvogels, der auch begeisterter Hobbynaturforscher war. Naturschutz und Heimatpflege waren ihm ein wichtiges Anliegen. Im 1948 neugegründeten Heimat- und Verkehrsverein war er in den ersten Jahren unbestrittener Experte für Natur, Heimat und Geschichte. Das Buch ist unter anderem im Stadtarchiv Höxter erhältlich, kann aber auch direkt beim Autor unter E-Mail Friedrich.Bratvogel@t-online.de kostenlos gegen Porto bestellt werden.

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