Extremismus-Forscherin aus dem Kreis Höxter: „Wir haben das Zuhören verlernt“

Kreis Höxter/Willebadessen-Niesen. Was hält eigentlich eine Gesellschaft zusammen? Eine Frage, deren Antwort sich in wenigen Jahren verändert hat. Selbst auf dem Dorfe treffe man sich heute nicht mehr zufällig, ohne sich vorher verabredet zu haben. &bdquo;Den Menschen fehlt es an Kontakträumen“, sagt Sandra Legge. Die 45-Jährige arbeitet seit drei Jahren auf der Hegge, dem Bildungszentrum bei Willebadessen-Niesen. Das fehlende soziale Miteinander forciere Gerüchte, Streitigkeiten, Halbwahrheiten, Stigmatisierung, Spaltung, Extremismus, Anfälligkeit für rechte Parolen. Und sie hat gemerkt: &bdquo;Politisches wird privat, Privates politisch.“ Es fehle heute an Räumen für eine &bdquo;gesunde Auseinandersetzung“, sagt die Frau, die in Marburg studiert (Soziologie mit Schwerpunkt Psychologie, Friedens- und Konfliktforschung) und mit dem renommierten Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick in Bielefeld zusammengearbeitet hat. Was tun? Ein Patentrezept hat Sandra Legge nicht. Aber die Aufforderung, zu handeln und aufzustehen. Corona habe die Entwicklung deutlich beschleunigt – aber eben nicht nur Corona. Auch heute noch setzt die Bildungsreferentin sich in Vorbereitung auf Seminare auf der Hegge und in vielen Gesprächen mit Referenten und Teilnehmern mit diesen Themen regelmäßig auseinander. Credo: die Sinnsuche eines jeden in der Gesellschaft. Es klingt ganz einfach, wenn Sandra Legge davon spricht, wie Menschen zu wenig Anerkennung im realen Leben bekommen. Ihr soziales Netz, ihren Halt suchen, wenn Corona oder Krieg vor der Haustür ihnen Angst machen. Wie sie in ihrer zunehmenden Einsamkeit sich stärker dem Internet zuwenden und damit in einer dauerhaften Blase landen. &bdquo;Sie haben nichts mehr zu verlieren“ &bdquo;Sie haben nichts mehr zu verlieren. Aber sie bekommen plötzlich Anerkennung, sehen sich aufgewertet, können Schuld auf Schwächere, Muslime, Geflüchtete abwälzen, die ihrer Ansicht nach das Land kaputt machten.“ Und das sei das Schwere: dieser Bubble, dieser Blase in der Netzwelt, wieder zu entkommen. Grundsätzlich, sagt die Fölsenerin, sei es aber ein gesamtgesellschaftliches Problem: das Defizit, sozial wahrgenommen zu werden. Ein Schimpfen, auch wenn es mir vergleichsweise gut gehe. Eine politische Unzufriedenheit, die nur beseitigt werden könne, wenn die handelnden Personen beseitigt seien. Dazu komme in den unteren Einkommensgruppen die Angst vor einem weiteren Abstieg, die die AfD dort schüre – das gelte heute besonders, aber nicht ausschließlich, in den ostdeutschen Bundesländern: &bdquo;Viele Männer, viele Arbeitslose, wenige Migranten.“ Und im Westen? Ganz anders. &bdquo;Dort wird autoritären Aussagen in Kreisen mit einem hohen Haushaltseinkommen zugestimmt, verbunden mit der Angst, es könnte uns schlechter gehen.“ Das habe auch mit der starken Erfolgsorientierung unserer Gesellschaft zu tun, die viele von uns intus haben: hohe Leistungsorientierung, ständiger Selbstoptimierungs- und Konkurrenzdruck. Das verringere nicht nur die Solidarität in unserer Gesellschaft, sondern befördere gerade in Krisenzeiten auch menschenfeindliche Haltungen, insbesondere, aber nicht nur dann, wenn wir persönlich von der Krise betroffen seien. Vor dem Hintergrund, dass Erfolg, wenn überhaupt, nur kurzfristig unser Selbstwertgefühl erhöhe und langfristig sogar erniedrigen könne – und es vielmehr soziale Beziehungen sind, die einen positiven Einfluss auf unseren Selbstwert haben, ein hoher Preis für den Einzelnen und die Gesellschaft. Das Alter spiele ebenfalls eine Rolle. Bei der älteren Bevölkerung seien abwertende und fremdenfeindliche Haltungen stärker vertreten. Die gehe zwar nicht auf die Straße, erzeuge aber ein Meinungsbild. Auch für die Jungen, die damit bestärkt würden. &bdquo;Die Politik“, sagt Sandra Legge, habe &bdquo;lange geschlafen“: &bdquo;Es ging uns so lange gut. Die Flüchtlingskrise bereitete dann den Boden für die AfD. Die Positionen wurden lauter. Auch Menschen mit Vorbildfunktionen begannen zu drohen. Und ich selbst war zum ersten Mal nicht sicher, ob ich noch die Mehrheit bin.“ Wer nicht Freund ist, der ist Feind. Es begannen die Diskussionen, in denen nur noch Schwarz und Weiß galten. Und: &bdquo;Wir haben echtes Zuhören verlernt. Die meisten können nicht mal zwei Minuten dem anderen zuhören, ohne ihn zu unterbrechen, in den Gedankengang reinzugrätschen. Das macht es unmöglich, den anderen zu verstehen.“ Es lohne sich, zwei, drei Fakten für solche Gespräche parat zu haben Auch sie selbst erwischt sich dabei, dass bei Parolen &bdquo;sich bei mir alles zusammenzieht und ich keine Lust habe, mit diesen Menschen zu reden“. Dennoch ihr Appell: &bdquo;Zu fragen, warum denkst Du so, was macht Dir Angst, wie möchtest Du leben? Obwohl ich nicht auf der Werteebene meines Gegenübers stehe, sollte ich die Möglichkeit nutzen, mit ihm oder ihr in Austausch zu treten. Ja, das ist anstrengend, deshalb machen es viele nicht mehr.“ Es lohne sich, zwei, drei Fakten für solche Gespräche parat zu haben: Zum Beispiel bei Diskussionen ums Bürgergeld – wenn das Argument kommt, das werde doch &bdquo;nur versoffen und verraucht“. Dann zu wissen, dass nur vier bis neun Prozent der Bezieher die seien, die wirklich das Sozialsystem ausnutzten: &bdquo;Willst Du dann über die 91 Prozent diskutieren, denen das Geld nicht zum Leben reicht?“ Sandra Legge betont: Es gibt kein Patentrezept. &bdquo;Wichtig ist aber, ins Handeln zu kommen und sich – wenn man in einer Situation Angst hat – andere Menschen an die Seite zu holen.“ Sie nennt ein weiteres Beispiel von Neonazis, die an einem Bahnsteig einen Rollstuhlfahrer anpöbeln. Angst dazwischenzugehen? Ja. Etwas zu sagen? Ja. &bdquo;Aber sich einfach daneben zu stellen, das geht. Das wird die Situation massiv verändern, das löst in der Regel einen Nachahmungseffekt aus.“

Meistgelesen