Arbeitskräftemangel im Kreis Höxter: „Life-Work-Balance für viele wichtiger“

Frau Wesemann, überall werden Arbeitnehmer gesucht. Wo sind während Corona all die Arbeitskräfte geblieben? Und wer ächzt am stärksten? Andrea Wesemann: Der Fachkräftemangel betrifft mittlerweile viele Berufsgruppen und nicht nur die Altenpfleger, Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik oder Kraftfahrer. Auch Erzieher, Sozialarbeiter und Heilerziehungspfleger sind immer stärker betroffen. Da ist jedoch leider erst der Anfang. Die Berufsgruppen mit Engpässen nehmen kontinuierlich zu. Wenn man sich die Zahl der Altersabgänge aus Beschäftigung im Kreis Höxter anschaut, so wird in den kommenden zehn Jahren jeder vierte Beschäftigte im Kreis Höxter den Arbeitsmarkt verlassen. Dies wird allein schon aus demografischen Gründen quantitativ nicht zu ersetzen sein. Nach neuer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft haben von mehr als 788.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Bereich Tourismus/Hotel/Gastgewerbe im ersten Corona-Jahr 2020 mehr als 215.000 neue Berufe ergriffen – nur 116.000 wechselten in einen dieser Berufe. Ist die Branche so unattraktiv oder so anfällig? Der Bereich Tourismus/Hotel/Gastgewerbe war besonders stark von der Corona-Krise und von den pandemiebedingten Einschränkungen, insbesondere den Lockdowns betroffen. Homeoffice ist in diesem Bereich nur auf wenigen Positionen möglich. Die Branche lebt von den Gästen und den persönlichen Kontakten. Über das Instrument Kurzarbeit konnten zwar viele Arbeitskräfte gehalten werden, jedoch haben sich auch einige Beschäftigte nach Alternativen umgesehen und haben Berufe ergriffen, die weniger krisenanfällig sind. Und was ist mit den jungen Menschen in dem Bereich? Ein weiterer Grund während der Pandemie war, dass auch die Zahl der Minijobber in dieser Branche eingebrochen ist und dass sogar deutlich stärker als die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, da dieser Personenkreis nicht von den Kurzarbeiterregelungen profitieren konnte. Insbesondere junge Menschen (Schülerinnen und Schüler sowie Studierende) haben die Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt und in dem Sinne auch nicht kennengelernt. Welches sind Ihrer Erfahrung nach weitere Gründe? Das Thema Work-Life-Balance bzw. Life-Work-Balance wird für viele aber immer wichtiger. Gemeinsame Zeit mit der Familie verbringen zu können, ist ein großes Kriterium bei der Stellensuche. Auch Verdienstmöglichkeiten, Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen spielen eine Rolle. Etwas einfallen lassen, um im Wettbewerb mit anderen Branchen mithalten zu können Hier sind die Arbeitgeber gefragt, Rahmenbedingungen zu verändern, um im Wettbewerb mit anderen Branchen bei der Suche nach Personal mithalten zu können. Wie ist die Situation im Kreis Höxter – ähnlich wie bundesweit? Aktuell stehen den 109 gemeldeten sozialversicherungspflichtigen Stellen im Agenturbezirk Paderborn zwar 251 Arbeitslose gegenüber, so dass man auf den ersten Blick denken könnte, in der Gastronomie herrscht kein Fachkräftemangel, jedoch trügt dieser Blick. Viele Arbeitslose, die zuvor in der Gastronomie gearbeitet haben, suchen nicht mehr nur im Bereich Tourismus/Hotel/Gastgewerbe, sondern halten auch Ausschau nach anderen Arbeitsstellen, zum Beispiel in der Industrie oder im Einzelhandel. Welches sind Gründe dafür, dass sich diese Entwicklung Kreis Höxter zeigt? Auch verhindert oft eine fehlende Mobilität die Arbeitsaufnahme. Die Arbeitsstellen in der Gastronomie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, ist teilweise schwierig bis unmöglich. Ferner erschweren die Arbeitszeiten (Schichtdienste, Abend- und Nachtzeiten, Wochenenddienste) oftmals die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Passungsprobleme zwischen Bewerbern und Arbeitsstellen sind immer häufiger zu verzeichnen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Neben der bereits erwähnten fehlenden Mobilität, lassen sich die Arbeitszeitwünsche der Bewerber und die Erfordernisse der Arbeitgeber oftmals nicht miteinander vereinbaren. Auch gesundheitliche Beeinträchtigungen nehmen zu, so dass nicht mehr alle Tätigkeiten ausgeübt werden können. Und wie hat sie sich bei uns hier im Folgejahr 2021 sowie im laufenden Jahr entwickelt/verschärft – oder gar entspannt? Die Gastronomie hat in den Pandemiejahren Beschäftigung abbauen müssen. Jetzt hat sich die Situation gewandelt: Da nunmehr wieder mehr Urlauber und Geschäftsreisende in die Region kommen, suchen die Unternehmen wieder vermehrt Personal für die wachsende Arbeit. Es ist jedoch nicht so einfach, gekündigtes Personal wieder zurück zu bekommen. Die Angst vor einem neuen Lockdown, vor Kurzarbeit mit entsprechenden Gehaltseinbußen und Unsicherheiten, hat bei vielen ehemaligen Beschäftigten aus der Branche zu einer Umorientierung geführt. Der Wunsch nach einem sicheren, krisenfesten Arbeitsplatz nimmt zu. Bei der derzeitigen guten Arbeitsmarktlage im Kreis Höxter ist ein Beschäftigungs-/Branchenwechsel häufig sehr gut möglich. Wie können Sie als Arbeitsagentur da konkret helfen und gegensteuern? Da gibt es verschiedene Ansätze: Angefangen beim Thema Berufsorientierung, um die Zahl der Schul-, Studien- und Ausbildungsabbrecher zu reduzieren und für das Thema duale Ausbildung zu begeistern. Weiter mit dem Thema Qualifizierung und Beratung (auch von Beschäftigten und Arbeitgebern). Ferner kann auch das Thema Zuwanderung eine Chance sein oder die Förderung älterer bzw. beeinträchtigter Arbeitnehmer. Wie sehen Sie den Fachkräftemangel allgemein, zum Beispiel auch im Handwerk? Was hat sich da in den vergangenen fünf bis zehn Jahren getan? Die Engpässe haben in den letzten Jahren immer mehr Berufsgruppen erfasst, auch das Handwerk ist inzwischen stark betroffen. So liegen beispielsweise Engpässe bei den Bau- und Ausbauberufen, beispielsweise im Hochbau oder in der Berufsgruppe der Maler und Lackierer vor. Eine ungebrochen hohe Neigungzum Studium junger Menschen Allein aus demografischen Gründen können die in den Ruhestand tretenden Fachkräfte nicht durch nachrückende junge Menschen ersetzt werden. Hinzu kommt die ungebrochen hohe Studierneigung junger Menschen, die der Besetzung der Ausbildungsplätze auf Fachkraftebene entgegenläuft. Vor Kurzem hat das neue Ausbildungsjahr begonnen. Welche Berufe boomen und sind in? Welche sind – provokant gesagt – &bdquo;Ladenhüter“? Die Top Ten der von jungen Menschen nachgefragten Ausbildungsgänge ist seit Jahren ähnlich. Die Jugendlichen interessieren sich für kaufmännische Berufe wie den Industriekaufmann/die Industriekauffrau oder den Kaufmann/die Kauffrau im Einzelhandel, aber auch der Ausbildungsgang zum/zur medizinischen Fachangestellten oder der Kfz-Mechatroniker/die Kfz-Mechatronikerin werden häufig nachgefragt. Einen hohen Stellenüberhang, das heißt, mehr Ausbildungsstellen wie Bewerber, haben wir derzeit im Bereich Verkauf von Lebensmitteln, im Hochbau und vielen weiteren Handwerksberufen sowie in der Metallbearbeitung zu verzeichnen. Und wie können Sie die jungen Menschen eigentlich jetzt noch erreichen? Es ist ja noch nicht zu spät . . . Die Berufsberatung hat in der Jugendberufsagentur Höxter am Markt 6 einen Sofortzugang eingerichtet, so dass junge Menschen jederzeit zu den Öffnungszeiten ohne Termin mit der Berufsberatung sprechen, sich beraten, orientieren und vermitteln lassen können. Zudem besteht die Möglichkeit der telefonischen Kontaktaufnahme - oder auch einfach eine E-Mail an das Postfach Hoexter.Jugendberufsagentur@arbeitsagentur.de zu schreiben. Beratungen können auf Wunsch auch gerne per Videokommunikation durchgeführt werden. Corona und die Folgen wie Schließungen oder Kurzarbeit: Wie bewerten Sie die Lage auf dem Arbeitsmarkt im Kreis Höxter? Wie sind wir durch die vergangenen zweieinhalb Jahre gekommen? Der Kreis Höxter ist ausgesprochen gut durch die vergangenen zweieinhalb Jahre gekommen. Die Zahl der Arbeitslosen liegt bereits wieder unterhalb des Niveaus vor der Corona-Pandemie und hat nahezu den äußerst geringen Wert aus dem Monat Juli 2018 (2.855 Arbeitslose) wieder erreicht (Stand Juli 2022: 2.857). Auch die Arbeitslosenquote ist mit 3,8 Prozent die geringste in ganz OWL. Der Arbeitsmarkt ist also ausgesprochen stabil, was aber auf der anderen Seite die Rekrutierung von Arbeitskräften extrem schwierig macht. Das Thema Fachkräftesicherung ist daher ein großes im Kreis Höxter.

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