Kreis Höxter Bundeswehrsoldat: "Wäre jederzeit wieder nach Afghanistan gegangen"

Herr Wiegand, in Afghanistan haben sich die Ereignisse in den vergangenen Tagen überschlagen. Hätten Sie damit gerechnet?Heinz-Jörg Wiegand: Dass Afghanistan auch nach 20 Jahren internationalem Einsatz sozusagen auf der Kippe stand, war hinlänglich bekannt. Überraschend und bedrückend ist das Tempo der erneuten Machtergreifung. Während der ersten Taliban-Herrschaft vollzog sich das über vier Jahre von 1994 bis 1998, ausgehend von Kandahar bis zur widerstandslosen Einnahme von Masar-e Sharif im Jahr 1998. Materialaufwand, Versehrte und Tote: Angesichts der Rückkehr der Taliban stellen sich viele Menschen die Frage nach dem Sinn der Einsätze. War es aus Ihrer Sicht die Mühe und die Opfer wert?Nun gibt es die bloßen Zahlen und es ist natürlich einfach und pauschal zugleich, die drei Missionen ISAF, Enduring Freedom und Resolute Support als Fehlschlag oder "gescheitert" zu bezeichnen. Das wäre aber gegenüber den menschlichen und materiellen Opfern nicht gerecht. Immerhin wurden doch Teile des Landes zumindest bis 2014, 2015 stabilisiert in Verbindung mit einem bescheidenen Wohlstandszuwachs, selbstverständlich auch durch die Anstrengungen nicht-staatlicher Organisationen. Allein die Kindersterblichkeit konnte in Afghanistan durch ein verbessertes Trinkwassermanagement der militärischen und zivilen internationalen Staatengemeinschaft von 29 Prozent im Jahr 2007 auf nunmehr sieben Prozent gesenkt werden. Bis 2007 lag diese noch höher. War es für Sie persönlich die Mühe wert?Die Frage beantworte ich mit einem Ja, denn letztlich kann ich auch nur ein Fazit für mich ziehen. Ich wäre jederzeit wieder in einen Afghanistan-Einsatz gegangen. Mit welchen Überzeugungen oder Ambitionen sind Sie dorthin gegangen?Ich hatte mich Anfang 2007 freiwillig gemeldet. ISAF (International Security Assistance Forces) war damals der dritte große Einsatz der Bundeswehr nach den Einsätzen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Ich unterstreiche, dass bei mir materielle Aspekte nicht ausschlaggebend waren, es gibt da andere Gründe, die sich nur schwerlich beschreiben lassen. Wie erklären Sie sich die schnellen Erfolge der Taliban? Warum hat die Afghanische Armee kaum Gegenwehr geleistet?Die Taliban und ihre Untergruppierungen hatten sich seit Jahren vor allem im Süden des Landes festgesetzt, de facto waren sie dort nie niedergeworfen worden, was unter anderem an der tausende Kilometer langen, nicht zu schließenden Grenze nach Pakistan liegt. Die fast vollends fehlende Gegenwehr hat mehrere Ursachen: die Afghanische Nationalarmee (ANA) sollte ein stehendes Heer von 300.000 Männern umfassen. Die Stärke wurde vermutlich nie erreicht. Abgesehen von Helikoptern gab es bis dato keine afghanische Luftwaffe, das war stets Aufgabe der USA und Großbritanniens. Zudem wurde der wichtige Faktor Gefechtswert der ANA falsch eingeschätzt. Dies gipfelte darin, dass den Taliban vermutlich Waffen, Munition und Ausrüstungsgegenstände gegen freies Geleit überlassen wurde. Hinzu kommen die Meldungen sozusagen von unten nach oben. Vermutlich wurden nicht immer - ob wissentlich oder unwissentlich - die realen Zahlen gemeldet. Die politischen Führungen der westlichen Staaten sind vermutlich von vollends falschen Annahmen ausgegangen. Das sind schlechte Grundlagen für richtige Entscheidungen. Hätte man die derzeitige Entwicklung kommen sehen müssen?Neben Kabul waren auch Städte und Regionen im Norden seit Jahren Ziele von Anschlägen der Taliban. Der Staatengemeinschaft musste klar sein: So, wie sich die Truppen aus der Fläche zurückziehen, konnten die Taliban die quasi nahtlos übernehmen. Was erwarten Sie nun von der internationalen Gemeinschaft?Afghanistan hätte nach fast 20 Jahren des Engagements nicht schlagartig den Afghanen überlassen werden sollen. Wo und wie immer es möglich sein wird, muss an einem zivilen Engagement festgehalten werden. Dies fällt nun mit Zustimmung oder Ablehnung der Taliban. Sollte sich die Bundesrepublik also diplomatisch auf ein von den Taliban geführtes Afghanistan einlassen?Ich beantworte dies mit einem klaren Ja, denn es gibt langfristig keine Alternative. China, das bereits 2007 in Afghanistan eifrig und von den Taliban unbehelligt Straßen baute, Großbritannien und Russland haben in den vergangenen Tagen bereits einen pragmatischen Umgang mit den Taliban angekündigt. Es bleibt zu hoffen, dass die Ankündigungen der Taliban-Führung auch von den Kommandeuren auf regionaler und lokaler Ebene umgesetzt wird. Mit etwas Hoffnung unterscheiden sich diese Taliban vielleicht von denen der ersten Herrschaft der Jahre 1994 bis 2001. Ich erinnere auch daran, dass Sanktionen oder das Einfrieren von Hilfsgeldern oft nie gegen politische Eliten wirken, sondern gegen weite Teile der Bevölkerung. Freilich muss die Verwendung von Geldern und Gütern vor Ort kontrolliert werden. Hilfsgelder und Hilfsgüter sind und bleiben ein ziviler Hebel, um mäßigend auf Regime einzuwirken. Wann wäre es eine Option, erneut in großem Stil Truppen zu entsenden?Aktuell auf keinen Fall. Nur im Fall gröbster Menschenrechtsverletzungen wie etwa Völkermord an bestimmten Ethnien Afghanistans. Davon ist nach Bekundungen der Taliban aber nicht auszugehen. Schließlich muss wie im Fall der Afrikanischen Union (AU) überlegt werden, ob nicht auch Truppensteller aus Staaten wie Pakistan oder dem Iran in Frage gekommen wären, da diese denselben Glauben teilen. Wie bewerten Sie den Umgang mit den sogenannten Ortskräften, die die Bundeswehr vor Ort zum Beispiel als Übersetzer unterstützt haben?Ich bitte um Verständnis, an dieser Stelle nicht über die Akteure im Bund und in Kabul urteilen zu können. Ich selber musste 2007 auf die Hilfe von Ortskräften zurückgreifen. Es ist aber bereits eine moralische Verpflichtung, Ortskräfte und deren Familien im Falle einer tatsächlichen Bedrohung von Leib und Leben auch auszufliegen. Vollends an der Realität vorbei geht doch die Annahme, dass sich dadurch und durch die Situation in Afghanistan insgesamt die Flüchtlingsströme der Jahre 2015 wiederholen würden. In Deutschlands gab es bereits afghanische Flüchtlinge aus den Zeiten des Bürgerkrieges und der ersten Taliban-Herrschaft, überwiegend bestens integriert. Wie kann es eine gute Zukunft für Afghanistan geben?Der wichtige Unterschied heute zu den Bürgerkriegszeiten bis 2001 ist es, dass es keine nennenswerten Bürgerkriegsparteien mehr gibt wie damals unter dem legendären Tadschiken Ahmed Schah Massoud oder dem Usbekengeneral Dostum, die Teile des Nordens Afghanistan und das Panschir-Tal bis fast an den Stadtrand von Kabul dominierten. So paradox oder auch bitter es klingen mag: die aktuelle Alleinherrschaft der Taliban mag sich mangels rivalisierender militärischer Gruppen tatsächlich stabilisierend auswirken. Nochmals: Der Schlüssel für das Wohl und Wehe des gesamten Landes wird darin liegen, wie sich mit dem neuen Regime in Kabul verständigt wird.

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