Wie wichtig ist der Inzidenzwert? Das sagt der Leiter des Impfzentrums

Kreis Höxter. Der Stoff für Diskussionen geht in der Corona-Pandemie nicht aus. Derzeit wird über den Wert diskutiert, der den Alltag in den vergangenen Monaten bestimmt hat, wie kaum ein anderer: Der Inzidenzwert. Bisher war die Zahl der Ansteckungen je 100.000 Einwohner Gradmesser einer fiebernden Gesellschaft. Er war Grundlage für politische Entscheidungen und Gegenstand von Gesprächen im Supermarkt und am Gartenzaun. Doch zunehmend kommen Zweifel auf, ob die Sieben-Tage-Inzidenz für das Management der Pandemie weiterhin die Bedeutung haben sollte wie bisher - Baden-Württemberg hat ihn zum Beispiel schon aus der Corona-Verordnung gestrichen. Für Jens Grothues, medizinischer Leiter des Impfzentrums in Brakel, ist die Antwort ein klares "Nein". Der Inzidenzwert sei nicht mehr aussagekräftig genug. Denn von der Inzidenz auf die Belastung des Gesundheitssystems zu schließen - das wird zunehmend schwierig. Mittlerweile sind rund 60 Prozent der Deutschen vollständig geimpft. Gegen einen schweren Verlauf sind sie geschützt. Sollten sie sich infizieren, treiben sie zwar den Inzidenzwert in die Höhe; aber mit nur geringer Wahrscheinlichkeit werden sie sich auf der Intensivstation wieder finden. Das gilt auch für bestimmte Altersgruppen. "Es macht einen Unterschied, ob wir bei den 80-Jährigen eine Inzidenz von 200 haben oder bei den 30-Jährigen", fasst Grothues zusammen. Inzidenz zum Schutz vor Langzeitfolgen kleinhalten? Deswegen sagt er: "Eine altersgewichtete Inzidenz ist wichtig." Sprich: In welchen Altersgruppen erkranken wieviele Menschen. Doch auch das sollte aus Sicht des Mediziners nicht die einzige Grundlage sein. Die Intensivstationen und die Belastung der niedergelassenen Ärzte sollten im Blick behalten werden. Daneben der Fortschritt der Impfkampagne und die derzeit grassierenden Corona-Varianten. Geht es um den Inzidenzwert, wird oft angebracht, dass nicht absehbar ist, welche Langzeitschäden eine Infektion nach sich ziehen kann. Stichwort: Long Covid. Sollte die Inzidenz also nicht weiterhin kleingehalten werden, um die Menschen vor Spätfolgen zu schützen? Grothues ist skeptisch. Es gebe Hinweise darauf, dass Long Covid vor allem bei Patienten auftritt, die schwer an Corona erkrankt sind. Schreitet die Impfkampagne voran, wird die Zahl schwerer Verläufe abnehmen und damit auch das Risiko von Long Covid. Druck der Politik scheint zu wirken Auch die Überlegung, alles Handeln weiterhin an der Inzidenz auszurichten, um Menschen zu schützen, die sich nicht impfen lassen wollen, lässt Grothues nicht gelten. "Wir haben jedem ein Impfangebot gemacht. Wir haben den Menschen genug Zeit gelassen, sich zu impfen und dadurch zu schützen", so Grothues. "Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, müssen die Konsequenzen tragen." Aber zumindest wirke die Strategie, die Menschen mit etwas Druck doch noch zum Impfen zu bewegen. Ein Beispiel: Laut Grothues seien am Donnerstag, 12. August, 160 Menschen spontan ins Brakeler Impfzentrum gekommen, um sich ihre Spritze abzuholen. An anderen Tagen seien es zehn, 20, vielleicht 30 Impflinge ohne Termin gewesen. Grothues vermutet, dass es sich um eine Reaktion auf den zunehmenden Druck handelt, den die Politik auf Impfunwillige ausübt. So hat die Ministerpräsidentenkonferenz erst kürzlich beschlossen, Bürgertests ab dem 11. Oktober nur noch in Ausnahmefällen kostenlos anzubieten, und schon ab dem 23. August werden sich Ungeimpfte häufiger testen lassen müssen, um noch in Restaurants oder Kinos gehen zu dürfen. "Man muss die ganze Welt schützen" Für den Inzidenzwert als Indikator für die Entwicklung der Pandemie spricht aus Sicht von Grothues vor allem eines: Es ist die Gefahr, dass Virus-Varianten entstehen, gegen die bisherige Vakzine keinen Schutz bieten. "Je höher die Inzidenz, desto mehr Virusmaterial ist parallel unterwegs, desto mehr Virusvermehrung hat man parallel und damit schließlich mehr Mutationen." Für den Mediziner zählt hier der globale Maßstab. Laut Weltgesundheitsorganisation sind erst 1,5 Prozent der Bevölkerung Afrikas vollständig gegen das Virus geimpft, etwa 20 Millionen Menschen und damit weniger als in Deutschland. "Man muss die ganze Welt schützen", sagt Grothues.

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