Medizinische Versorgung im Kreis Höxter: „Gesundheitssystem ist Patient geworden“

Brakel/Kreis Höxter. Die Menschen müssten sich von der Vorstellung verabschieden, 24 Stunden sieben Tage die Woche einen Arzt sprechen zu können und von ihm versorgt zu werden: &bdquo;Es könnte auch ein Roboter sein“, sagt Allgemeinmediziner Jens Grothues bei der Diskussionsrunde vor 50 bis 60 Zuhörern, zu der der CDU-Stadtverband Brakel eingeladen hatte. Thema: &bdquo;Ärztliche Versorgung in Brakel gefährdet – Krankenhäuser in der Krise“. Und nach den knapp eineinhalb Stunden konnten die Zuhörer diese beiden Aussagen mit einem deutlichen Ja beantworten – aber eben nicht nur für Brakel geltend, sondern für die Region. &bdquo;Das Gesundheitssystem ist selbst zum Patienten geworden“, so formulierte es Moderator Hermann Steinhage. Versorgungszentren Sind Medizinische Versorgungszentren eine Alternative? Eventuell sogar kommunale MVZs wie in Marienmünster geplant? Mit angestellten Ärztinnen (&bdquo;die Medizin ist weiblich“) und Ärzten, die aus erklärbaren Gründen zwischen nicht ausreichender Budgetierung und überbordendem Bürokratie zunehmend den Gang in die Selbstständigkeit scheuten? Für Grothues sind sie auf lange Sicht aber nicht finanzierbar. In Höxter schreibe man schwarze Zahlen durch den guten Mix im MVZ der KHWE, die meisten seien aber &bdquo;hochdefizitär“, so KHWE-Geschäftsführer Christian Jostes. Wertschätzung Drei Gründe für die Zuspitzung der Situation im Hausärzte-Bereich hat Grothues ausgemacht: Nicht ausreichende Anzahl an Hochschulabsolventen (Bielefeld soll neuen Schwung bringen), die Budgetierung, die der ehemalige Gesundheitsminister Seehofer einmal für fünf Jahre einführen wollte – und an der man heute noch krankt, weil sie nicht mit Inflation und Tarifen wächst. Schon in der vergangenen Woche sei der Punkt erreicht gewesen, an dem die Budgets der Hausärzte für 2023 aufgebraucht waren: &bdquo;Wir werden jetzt sechs Wochen deutschlandweit 125 Millionen Fälle umsonst abarbeiten.“ Und eine Marktverschiebung, bei der Versprechen nicht eingelöst, aber die Rahmenbedingungen immer schlechter würden, sprich: Die Wertschätzung durch die Politik fehle komplett. Minuten-Medizin Beispiel: Bundestagsabgeordnete hätten für ihre Mitarbeiter während Corona eine 3.000-Euro-Prämie bekommen, Krankenhäuser für unbelegte Betten finanzielle Unterstützung. &bdquo;Meine Mitarbeiterinnen bekamen nichts.“ Da habe er Schwierigkeiten, diese überhaupt zu finden: &bdquo;Ich bekomme keine Bewerbung von Medizinischen Fachangestellten mehr, habe jetzt drei Zahnarzthelferinnen eingestellt“, so der Allgemeinmediziner, der sich für seinen Berufsstand engagiert. Dazu die auch finanzielle Konkurrenz von Krankenhäusern. Ja, er sei auch mit der &bdquo;Minuten-Medizin“ nicht zufrieden, die viele Patienten zurecht beklagten. Auch nicht mit der eingeschränkten telefonischen Erreichbarkeit in Praxen: &bdquo;Aber ich kann das Personal nicht von den Bäumen holen.“ Versorgungsquote Laut Bürgermeister Hermann Temme hat Bad Driburg eine hausärztliche Versorgungsquote pro Einwohner von 96,6 Prozent, Beverungen von 97,3, Höxter von 85, Steinheim von 81,7, Warburg von 94,7 und Brakel von 106,7 Prozent. Zahlen, die laut Grothues aber nicht mehr aussagekräftig seien: &bdquo;100 Prozent hört sich gut an – doch die Bevölkerung wird älter, braucht mehr Behandlung.“ Auch Temme fügte an: &bdquo;50 Prozent der Ärzte sind über 60 Jahre alt.“ Er spricht von einer &bdquo;Lawine“. Kommunalpolitik habe wenige Einflussmöglichkeiten, die jüngste Resolution im Rat sei &bdquo;ein stumpfes Schwert“, bekannte der Brakeler. Auch Werbung um Ärzte für die Region mit einem attraktiven Umfeld und Infrastruktur für die Familien betrieben alle Kommunen, ergänzte Grothues. Es sind die persönlichen Kontakte, die weiterhelfen, die kurzen Wege, der direkte Draht: So habe man einen Kinderarzt nach Brakel geholt, so Temme. Attraktivität Vier Zahnärzte gibt es noch in der Nethestadt, sagte Tom Kunath, einer von ihnen. Er verweist auf den wenig attraktiven Standort Kreis Höxter: &bdquo;OWL hört für viele hinter Bielefeld oder Detmold auf. Keiner will nach Ost-OWL.“ Früher sei der Traum der eigenen Praxis Antriebsfeder für die Studierenden gewesen. &bdquo;Das hat sich um 180 Grad gewandelt. Man möchte nicht mehr das finanzielle Risiko der Selbstständigkeit eingehen – bei abnehmender Dankbarkeit und zunehmenden Bürokratismus.“ Und er warnte ebenso wie Grothues vor den Versorgungszentren, die aus Wirtschaftlichkeit gegründet und verkauft würden: Medizinische Versorgung habe mit Vertrauen zu tun. Systemfehler Er sei seit 23 Jahren im Gesundheitssektor tätig – eine solche Situation wie jetzt habe er noch nicht erlebt, erklärte Christian Jostes, Geschäftsführer der KHWE mit vier Kliniken im Kreis. Gesundheitsversorgung sei Daseinsvorsorge – aber selbst eine Feuerwehr sei heute besser finanziert. Beispiel: Kosten für Personal- und Sachleistungen stiegen jährlich zwischen 4 und 4,5 Prozent, der festgelegte Basis-Fallwert aber nur um 2,6 bis 2,8 Prozent: &bdquo;Das System rutscht in die Roten Zahlen – seit 20 Jahren ist das so.“ Schon vor Corona sei das System das erste Mal gekippt. Ein Rettungsschirm habe über die Jahre 2021 und 2022 geholfen. Aber: 2022 hätten noch zehn Prozent der Fälle von vor Corona noch immer gefehlt: Und bei einem Umsatz von 150 Millionen Euro seien das 15 Millionen, die fehlten, die nicht kompensiert werden könnten. &bdquo;Dem sind wir hilflos ausgeliefert.“ Die angekündigte Krankenhausreform für 2024 werde nichts ändern, denn erstens gebe es noch immer keinen Referentenentwurf – niemand wisse, wie das laufen solle. Und zweitens werde sich eine Wirkung frühestens 2026/2027 entfalten. Eine lange Durststrecke. Finanzausstattung Hinzu komme die unterschiedliche Finanzierung der Kliniken mit privaten, kommunalen und konfessionellen Trägern. Letztere bekämen keinen Ausgleich. Folge: Insolvenzen wie im katholischen St. Vincenz Paderborn oder dem Evangelischen Krankenhaus Holzminden. Die Spezialisierung, die die KHWE vor Jahren eingeschlagen habe, sei trotz Schelte damals richtig gewesen: Höxter mit 400-Betten-Haus, die Geriatrie in Steinheim oder die Fachklinik in Brakel, die größte Endoprothetik-Klinik in OWL mit jährlich 1.200 Gelenkersatz-OPs. &bdquo;Wir sind vorbereitet, aber wissen nicht, was kommt.“

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