Ukrainer in Borgentreich berichten von der Flucht aus der Hölle von Mariupol

Borgentreich. Sechs Tage alt war der Sohn von Tatjana Lapina, als der Krieg begann. &bdquo;Wir sind aus Mariupol“, sagt die junge Mutter. &bdquo;Und wie durch ein Wunder der Hölle entkommen“. Die Familie aus der Ukraine kam in diesen Tagen vor zwei Jahren in Deutschland an. In der Heimat hatten sie alles verloren, &bdquo;unser Zuhause und unser gewohntes Leben“. Die Schreckensbilder begleiten sie noch heute. &bdquo;20 Tage in Mariupol“: Der mit einem Oskar prämierte Dokumentarfilm lenkt aktuell erneut den Blick auf den Kriegsterror in der ostukrainischen Stadt nach dem russischen Überfall, der vor zwei Jahren am 24. Februar begonnen hatte. &bdquo;Nur zwei Tage zuvor war der Kaiserschnitt geplant“, sagt Lapina. Doch das Schicksal wollte es anders: Viktor erblickte vier Tage früher die Welt. Bevor die Raketen die Stadt trafen und &bdquo;von der Entbindungsklinik nicht viel übrig blieb“. Ihre Familie entkommt nur knapp dem Tod: Am 3. März 2022 schlägt eine Rakete in die Wohnung von Lapinas Schwiegermutter Galina Shijan ein. Dort sitzt die Familie zusammen. Der erste Treffer in ihrem Viertel. Die Wohnung zerstört, konnte sich die Familie retten. Splitter verletzen den Kopf von Vater Vsewolod und der älteren Tochter Lolita, Tatjanas Gesicht wird von kleinen scharfen Teilchen zerschnitten. &bdquo;Alles war voller Blut“, erinnert sich Lapina. Die Angst ist ständiger Begleiter Die Stadt Mariupol ist eingekesselt und wird von allen Seiten beschossen. Sie müssen aus der Gegend fliehen. Zuerst suchen sie Schutz im Keller eines Hauses in einem anderen Viertel, es gibt kein Licht, kein Gas, kein Wasser. Das Essen wird draußen auf offenem Feuer unter Beschuss gekocht. &bdquo;Wir froren. Um etwas zu trinken zu haben, mussten wir in Pfannen Schnee schmelzen“, sagt Tatjana. Der Beschuss hört nicht auf. Unter diesen Bedingungen würde es keinen &bdquo;grünen Korridor“ geben, das wird ihnen klar. Sie wagen es, mit einem kaputten Auto 17 Kilometer zum Landhaus ihres Nachbarn zu fahren. Das war am 15. März. Sie planen, bei Tatjanas Schwägerin in Spanien, die dort seit einigen Jahren lebt, Zuflucht zu suchen. Doch die Ereignisse nehmen eine dramatische Wende. In der Datscha bleiben sie 20 Tage. In der Kälte, ohne Strom. Doch auch auf dem Land wird es immer gefährlicher. Sie entscheiden sich, nicht mehr länger zu zögern, und fliehen weiter. Elf Tage sind sie unterwegs, in frostigen Nächten und entlang gefährlicher Kontrollpunkte. Die Angst begleitet sie ständig, während sie sich durch Russland in Richtung Westen kämpfen. Die Hindernisse sind zahlreich. &bdquo;Es war reine Folter“, sagt die junge Mutter Die Grenzen sind geschlossen, und es gibt keine sicheren Korridore. An 27 Kontrollpunkten, die sie passieren, werden sie die ganze Zeit über im Visier gehalten. Die Waffen können jederzeit in ihre Richtung abgefeuert werden. Männer müssen sich ausziehen und für verdächtige Tätowierungen mit ukrainischen Nationalsymbolen werden sie geschlagen. Für Tatjana und ihren neugeborenen Sohn Viktor ist die Situation besonders bedrohlich. Das Baby weint vor Kälte und Hunger, die junge Mutter hat immer weniger Muttermilch. Sie hatten es nicht geschafft, eine Geburtsurkunde für Viktor zu bekommen, da auch das Standesamt zerstört worden war. Die Russen betrachten Viktor als russischen Bürger und weigern sich, ihnen die Ausreise aus Russland zu gestatten. Dank Bekannten in Kiew gelingt es Tatjana schließlich, an eine digitale Geburtsurkundennummer für ihren Sohn zu kommen. Aber die Prüfungen sind noch nicht vorbei. Die Nummer ist nicht ausreichender Beweis dafür, dass das Baby ihr Kind ist. &bdquo;Es war reine Folter“, sagt Tatjana. Sie wagen es, nach St. Petersburg zu fahren &bdquo;Die Russen schlugen mir vor, uns als Flüchtlinge aufzunehmen, die vor der ukrainischen Aggression fliehen. Was für eine Unverschämtheit. Dann kam der Befehl, dass ich mit meinem Baby in einen Bus steigen sollte. Ohne den Rest der Familie.“ Man folgt ihnen bis zum Lager in der Stadt Dzhankoy auf der Insel Krim. Alle dürfen gehen, außer Mutter Tatjana und Sohn Viktor. An der Grenze muss die Identität des Kindes wieder hergestellt werden. Dann sagen sie, dass Tatjana und ihr Sohn kein Recht hätten, außerhalb Russlands zu reisen. Andernfalls: Gefängnis. Aber auf eigene Gefahr wagen sie es, nach St. Petersburg zu fahren. &bdquo;Meine Verwandten fuhren mit dem Auto unseres Freundes, ich mit den Kindern mit dem Zug zuerst nach Woronesch und dann nach St. Petersburg“, schildert die junge Mutter. &bdquo;Wir durften uns nicht aus den Augen verlieren“. In St. Petersburg treffen sie sich alle im Hotel. Vsewolod hat auch seinen Vater mit auf den Weg genommen. Der verkauft in der Stadt sein Auto. Mit dem Geld kaufen sie sich Kleidung und Tickets für den nächsten Bus nach Europa. &bdquo;Aber wieder wollten sie uns wegen Problemen mit Viktors Papieren nicht über die Grenze lassen. Sie sagten: In diesem Fall muss Moskau entscheiden. Wer diese verantwortliche Person war, bleibt bis heute ein Geheimnis, schließlich gelang es uns doch, Russland zu verlassen“, sagt Vsewolod. So kommt die Familie nach Estland. Dann nach Lettland. Dort bleiben sie drei Tage, um sich zu erholen. Das restliche Geld reicht für Hotel, Essen und Flugtickets nach Dortmund, die sie kaufen, ohne zu wissen, ob sie bleiben oder irgendwann zu Galinas Tochter weiter nach Spanien zu gehen. Am 16. April 2022 kommt Tatjana mit ihrer Familie in Dortmund an. Dortmund, Salzkotten, Paderborn, Scherfede Ein Bekannter, ein ukrainischer Lastwagenfahrer bietet ihnen Zuflucht und Hoffnung: &bdquo;Wenn ihr mit nach Salzkotten kommt, wird alles gut sein“, versichert er. Doch der Mann lebt nur in einem kleinen Zimmer zusammen mit anderen Fahrern. Die Lapins bleiben nur wenige Tage. Die Suche nach Ruhe und Sicherheit ist noch nicht vorbei. Die Salzkottener Verwaltung schickt sie in ein Erstaufnahmelager nach Bochum, aber Tatjana ist zu erschöpft, um weiterzufahren. Sie weigert sich, in einem so riesigen Lager zu leben. Die Familie beschließt, Zuflucht woanders zu suchen. Ohne Deutschkenntnisse und ohne klare Perspektive macht sie sich auf den Weg. Vor dem Rathaus in Paderborn treffen sie auf viele andere Ukrainer, die sich ebenso verloren fühlen wie sie. Eine der freiwilligen Helferinnen, selbst aus dem Land, bemerkt das schreiende Kind auf Tatjanas Arm und bietet Hilfe an. &bdquo;Sie telefonierte und telefonierte, dann verschwand sie und wir waren wieder verloren. Bis sie plötzlich zurückkehrte“, erinnert sich Lapina. Stunden später finden sie Unterschlupf bei den Diakonissen auf dem Zionsberg in Scherfede. &bdquo;Wir wurden getröstet, gut versorgt und für einige Wochen herzlich aufgenommen.“ Doch ist es erst der Anfang der Suche nach einem neuen Zuhause in Deutschland. &bdquo;Wir wollten niemanden zur Last fallen“, sagen die Lapins. &bdquo;Die Schwestern standen vor einem großen Jubiläumsfest und hatten selbst genug zu tun.“ Dank der Hilfe von Natalia Fiyalkovska, einer Ukrainerin, fanden sie schließlich ein Heim in Borgentreich. Das Haus, das einst einer Seniorin gehört hatte, die verstorben war, wurde für sie vorbereitet. &bdquo;Wieder trafen wir auf freundliche Menschen, die uns halfen, als gehörten wir zur Verwandtschaft.“ &bdquo;Sie nannten es Runder Tisch“ Wie Ute Dohmann-Bannenberg, die ein Treffen im neuen Zuhause organisierte. &bdquo;Sie nannten es ’Runder Tisch’“, sagt Lapina. &bdquo;Für uns ein neuer Begriff, den wir aus der Ukraine nicht kannten. Andere Länder, andere Sitten“. Alles sei sehr schnell passiert, &bdquo;und immer sehr herzlich“, betont sie. In Borgentreich finden sie schließlich den Frieden und die Sicherheit, die sie so lange gesucht hatten. Sie können ihr Glück kaum fassen. Tatjana und ihre Familie haben unfassbare Schrecken erlebt, ihre Odyssee ist aber auch eine Geschichte des Überlebens und der Hoffnung. &bdquo;Bitte schreiben Sie, dass es uns hier gut geht. Wir sind glücklich. Danke, Deutschland und Dank an alle, die uns begleiten und begleitet haben“, verabschiedet sich Familie Lapin.

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