Ein Jahr Corona: Selbst psychisch Starke brechen jetzt teils zusammen

Herr Schimke, Corona bedroht nicht nur unsere körperliche Gesundheit, es belastet auch die Psyche. Merken Sie nach einem Jahr Pandemie, dass Depressionen zugenommen haben? ANDREAS SCHIMKE: Wir müssen da unterscheiden zwischen echten Depressionen und sogenannten psychischen Belastungsstörungen. Die echte Depression ist eine chronische Erkrankung und erstmal nicht unbedingt abhängig von einer besonderen Lebenssituation. Eine Belastungsstörung ist, wie der Name schon sagt, eine psychische Reaktion auf eine Belastung - im aktuellen Fall zum Beispiel auf die Veränderungen der allgemeinen und auch privaten Lebenssituation durch die Pandemie. Aus einer solchen Belastungssituation kann aber eine Depression im eigentlichen Sinn erwachsen. Die richtigen Depressionen haben zur Zeit noch nicht zugenommen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sie bald zunehmen werden. Dass die Zeit der Psychologen kommen wird. In Krisenzeiten kämpfen sich die Menschen ja erstmal irgendwie durch - der Zusammenbruch kommt oft erst danach. Und die psychischen Belastungsstörungen? Gibt es da einen Anstieg seit Beginn der Pandemie? Ja, das können wir eindeutig feststellen und da sehe ich auch einen Zusammenhang mit der Pandemie. Und wir merken zum Beispiel auch, dass sich Alkoholprobleme häufen. Auch ein Ausdruck der seelischen Unzufriedenheit. Welche Gruppe von Menschen belastet die Situation derzeit am meisten? Viele resignieren wegen der aktuellen Lage. Aber es sind vor allem die Menschen in der ersten Lebenshälfte, die die Situation am meisten belastet. Wir sehen Eltern, die absolut nicht mehr können - Mütter mit Job und Kindern, die die Situation mit Home Office und Home Schooling völlig überfordert. Oder junge Geschäftsleute, Selbstständige und Freischaffende, die Angst um ihre Existenz haben. Auch die sind teilweise wirklich verzweifelt. Und wie steht es um die alten Menschen und die ganz jungen? Die alten Menschen leiden oft still vor sich. Mitunter haben sie seit Monaten ihre Enkel oder Angehörigen nicht mehr gesehen und fühlen sich isoliert. Das tut einem immer schrecklich leid. Von der sozialen Isolation sind aber auch die Mitteljungen und Pubertierenden mit am meisten betroffen. Es gibt Menschen, die normalerweise ein stählernes Seelenkostüm haben, die jede Krise unbeeindruckt zu meistern scheinen. Wie kommen diese Menschen mit der Situation klar? Besser vermutlich. . . Nein, erstaunlicherweise nicht. Auch Leute, die eigentlich ein ausgeglichenes Seelenkostüm haben und von denen man es normalerweise nicht erwarten würde, kommen mittlerweile zu uns in die Praxis und suchen Hilfe, weil sie eine psychische Belastungsstörung haben und unter der Situation leiden - und zum Teil sogar zusammenbrechen. Wie viel höher ist der Gesprächsbedarf bei ihren Patienten im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten? Gesprächsbedarf ist ohne Ende da. Er ist seit Corona deutlich mehr geworden - und eben auch bei einer etwas anderen Klientel. Also bei jenen Menschen, die normalerweise ein ausgeglichenes psychisches Kostüm haben. Es ist ja für alle problematisch, dass wir unsere Entlastung nicht so gestalten können wie normalerweise. Was genau meinen Sie damit? Vieles, was uns sonst wieder Kraft gibt und aufbaut, ist zurzeit nicht möglich: Vereinssport, Treffen mit Freunden und Verwandten - der Urlaub. Das, was unser Leben als Belohnung bereithält, bricht weg. Aber das brauchen wir. Wir funktionieren gut, wenn unser Belohnungssystem bedient wird. Dann sind wir belastbarer und glücklich. Vieles hält man eine gewisse Zeit aus. Vor allem auch dann, wenn man Licht am Ende des Tunnels sieht. Aber das sieht man im Moment ja noch nicht so richtig.

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