Nach Tragödie im Kurpark: Philosophen suchen in Löhne und Bad Oeynhausen nach Moral

Bad Oeynhausen/Löhne. Als der 20-jährige Philipos im Juni im Bad Oeynhausener Kurpark zu Tode geprügelt wurde, entbrannte eine gesellschaftliche Debatte: über Verrohung und Gewalt, aber auch über Moral und Migration. Und vielleicht war der heimische Fall auch deshalb ein Thema, als sich beim Sonntagsgespräch der &bdquo;Poetischen Quellen“ mehrere Philosophen auf die Suche nach dem &bdquo;Rettenden in der Gefahr“ begaben. Und damit auch nach einer ethischen Haltung für die Reparatur der Welt. Die schreckliche Tat auf der einen, die Herkunft des Täters auf der anderen Seite: &bdquo;Man kann sich schon vorstellen, in welche Richtungen jetzt galoppiert wird“, eröffnete Moderator Jürgen Keimer den Diskurs. Das lokale Beispiel diente dabei freilich nur als Ausgangspunkt. Mit der Messerattacke in Solingen war vor wenigen Tagen ein weiteres Ereignis in den Blickpunkt gerückt, in dessen Folge Rufe nach Abschiebungen und restriktiver Zuwanderung ebenso laut wurden, wie Warnungen vor &bdquo;hektischem Aktivismus“ und pauschalen Urteilen. Lesen Sie auch: Nach Messerattacke in Solingen: &bdquo;Zäune beim Hoeker-Fest lösen die Probleme nicht“ Beides aber, so sahen es die Philosophen auf dem Podium, helfe aus der moralischen Perspektive nicht weiter. &bdquo;Schärfere Sanktionen sind ja kein gesamtgesellschaftlicher Ansatz“, meinte etwa der Ethiker Hanno Sauer. Wenn 500.000 Menschen ins Land lasse, dann seien mit Sicherheit einige Straftäter darunter, erklärte er. &bdquo;Wenn aber solche Straftäter hier geboren werden, fordert doch keiner, dass sie nicht hätten geboren werden dürfen“, zog er einen Vergleich zu populären Meinungen, nach denen Flüchtlinge gar nicht erst aufgenommen werden dürften. Eine &bdquo;archaische Angst“ Hinzu komme, so sagte der französische Philosoph Guillaume Paoli, eine geradezu &bdquo;archaische Angst vor Fremden“, die auch noch durch eine Angst vor der Angst, den Rechten in die Hände zu spielen, verstärkt werde. &bdquo;Hoffentlich ist der Mörder ein Deutscher“ sei moralisch ein ebenso absurder Gedanke, wie die Freude über die Ankunft von Kriegsflüchtlingen. Matthias Bormuth, seines Zeichens Ideenhistoriker und Kulturwissenschaftler, forderte mehr Zeit für die Gesellschaft ein, um mit Fragen der Immigration überhaupt umgehen zu können. &bdquo;Hier haben viele schon Angst, wenn sie einen Moslem sehen, woanders ist das schon viel normaler. Da fehlt dem Land die Erfahrung.“ Poetische Quellen: Das Programm 2024 Und das sei auch kein Wunder, angesichts der vielen Krisen, mit denen sich die Menschheit derzeit konfrontiert sieht und die zunehmend Spaltungen hervorruft. Die Fähigkeit zum Miteinander reden gehe dabei immer mehr verloren, sei aber von immanenter Wichtigkeit. Ganz im Sinne von Hannah Arendt, mit deren Werk sich Bormuth ausgiebig beschäftigt, warb er für einen offenen Dialog. &bdquo;Heute wird ja oft erst nach dem Lager gefragt, bevor man entscheidet, ob man mit dem Gegenüber überhaupt spricht“, beklagte er. Die Fähigkeit, mit verschiedenen Meinungen streiten zu können, bezeichneter er hingegen als &bdquo;Tugend, die heute wünschenswert wäre“. Guillaume Paoli hingegen hegte zumindest leise Zweifel an diesem Lösungsansatz. Seiner Meinung nach steuert die Menschheit nicht auf ein Desaster zu – sondern lebt schon mittendrin. &bdquo;Die Frage ist also nicht, ab eine Katastrophe verhindert, sondern ob sie verringert werden kann.“ Beim moralphilosophischen Umgang mit dieser Frage sah er einen Trend zur &bdquo;Rechtfertigung des eigenen Egoismus“, wie ihn der US-Ökonom John Kenneth Galbraith beschreibt; etwa bei Bestrebungen einer Mondbesiedelung oder dem Leben auf dem Wasser als Antwort auf steigende Meeresspiegel. &bdquo;Das ist ein Weg des modernen Konservativen, den sich die meisten aber schlicht nicht leisten können“, kritisierte er eine aufkeimende Unempfindlichkeit für andere Menschen. Global braucht es andere Lösungen Tatsächlich aber komme man mit Alltagsmoral auch nicht gegen die großen Probleme der Welt an, betonte Hanno Sauer. So seien vernünftige Vorstellungen – &bdquo;nicht lügen, nicht stehlen, nicht töten“ – zwar noch immer tauglich für den eigenen Alltag. &bdquo;Aber diese Werte sind nicht skalierbar und aufs Globale übertragbar, da brauchen wir ein anderes Vokabular.“ Sauer machte in diesem Zusammenhang auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam: &bdquo;Von Moral sprechen wir immer nur im Ausnahmezustand und tun so, als wäre sie nur dann wichtig.“ Im Ergebnis stehe eine moderne Gesellschaft, die zunehmend polarisiert gestrickt sei. &bdquo;Wir gegen die – das ist toxisch fürs Zusammenleben. Da braucht man mitunter gar keine unterschiedliche Meinung mehr, um sich zu hassen.“ Dafür reiche schon ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ähnlich wie unter Fans einer Fußballmannschaft, die ja auch nicht den Sport, sondern nur die Gegner ablehnten. Tragische Konflikte in der Gesellschaft Einig war sich das Podium, dass die Sozialen Medien ihren Teil zu dieser Verrohung beitragen. Laut Hanno Sauer etwa würden dort &bdquo;die extremsten Meinungen am lautesten kundgetan“, während die Mehrheit schweige. Guillaume Paoli erinnerte zudem an die Corona-Pandemie, als vielen Debatten - auch den digitalen - &bdquo;eine gemeinsame Ebene des Streits von vornherein gefehlt“ habe und vernünftige Diskussionen daher gar nicht möglich erschienen. &bdquo;Das wiederholt sich jetzt bei den nächsten Krisen, da muss die Rationalität gesucht werden.“ Matthias Bormuth warf hingegen die Frage auf, ob überhaupt immer eine Lösung gefunden werden müsse. &bdquo;Nicht zuletzt die Literatur zeigt uns doch: Es gibt tragische Konflikte, die nicht zu lösen sind, aber benannt werden.“ Das anzuerkennen, könne die Haltung vieler schon verändern. &bdquo;Und vielleicht hilft eine geänderte Haltung auch schon dabei, weitere Konflikte zu verhindern.“

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