Warum jeder Herforder den Bismarckturm kennen muss

Herford. Als &bdquo;sonderbares Gespinst von Zeit und Raum“ beschreibt der Philosoph Walter Benjamin die Aura eines historischen, eines echten Gegenstands aus vergangener Zeit. Es ist das Gefühl einer &bdquo;Erscheinung von Ferne, so nah sie sein mag.“ Während eine Spinne im Treppenhaus des Bismarckturms ihre Fäden zieht, rückt mir das Zitat wieder ins Gedächtnis. Verfangen kann sich in diesem &bdquo;Gespinst“ aber längst nicht jeder. Warum das beim Bismarckturm anders ist, erklärt mir Thorsten Lüer, der mich zum Ausflugsziel auf den Stuckenberg einlädt. Der steinerne Koloss thront zwar noch über der Stadt, ist von unten aber kaum mehr zu sehen. &bdquo;Als ich Kind war, konnte man noch weiter und in alle Richtungen blicken“, sagt Lüer, nachdem wir die letzten Stufen des Turms erklommen haben und an der Brüstung stehen. Der Wald hat den ehemaligen Steinbruch längst zurückerobert. Ob er als Kind häufig hier war? Wie oft, kann Lüer heute nicht mehr sagen. Und ehrlicherweise, so gesteht er, hat er sich für die alten Steine auch lange gar nicht interessiert. &bdquo;Der Bismarckturm geriet für mich völlig in Vergessenheit“, sagt er. Trotzdem ist der 61-Jährige heute Vorsitzender des Freundeskreises, der sich um den Turm kümmert und ihn für die Herforder öffnet. Turm hat zwei Aussichtsplattformen Lüer lebte lange nicht in Herford. Als er zurückkehrt, tritt er in den Verein ein, der seine steinerne Kindheitserinnerung pflegt. &bdquo;Aber total passiv. Ich habe den Beitrag bezahlt und sonst nichts gemacht.“ Immerhin 118 Jahre steht der Turm schon in Herford. Von jeher ist er Ausflugsziel der Bürgerinnen und Bürger, die 15.500 Mark für den Bau des Turms 1905 sammelten. Bei seiner Fertigstellung ein Jahr später ist er 23,33 Meter hoch, die beiden Aussichtsplattformen liegen auf 18 Meter und 22 Meter Höhe. Er ist einer von 171 Bismarcktürmen in Deutschland, nicht alle sind begehbar. Die Bismarcktürme sollen an den Reichskanzler Otto von Bismarck und die Reichsgründung 35 Jahre vor seiner Fertigstellung erinnern. Nicht nur das Reich ist längst Geschichte: Der Herforder Turm überdauerte zwei Weltkriege, den Kalten Krieg, Teilung, Mauerfall und Einigung Deutschlands. Ein unverrückbarer Wächter über der Stadt. Generationen von Herfordern haben die 127 steinernen Stufen in der Mitte blank und glatt getreten. An diesem Tag schließen sich ihnen zahlreiche Jungen und Mädchen an, die mit ihrer Schule den Turm besuchen. Einige schauen ehrfürchtig in die Höhe. Lesen Sie auch: Pärchen möchte stillgelegte Wippe am Bismarckturm zurück Der Aura kann sich niemand entziehen Und laut Walter Benjamin macht sich ein besonderes Gefühl breit: Sie spüren die Aura des Ortes – auch dann, wenn sie selbst das Gefühl nicht in Worte fassen können. Entziehen könne man sich ihr aber nicht. Während die Kinder noch recht gesittet die Stufen erklimmen, toben sie anschließend auf der Lichtung vor dem Turm. Als Lüer Kind war, gab es dort noch eine Laufbahn und eine Sprunggrube. Auch heute springen die Kinder jauchzend – allerdings in die großen Heuhaufen, die dort an diesem Sommertag liegen. &bdquo;Die Kinder können sich hier austoben und auch mal laut sein – und es stört keinen“, sagt Lüer und lächelt beim Blick nach unten: &bdquo;So haben wir uns das vorgestellt.“ Der Freundeskreis gründete sich 1996 und will den Turm seither beleben und Erinnerungen schaffen, die die Mitglieder selbst als Kinder hatten. An jedem ersten, dritten und fünften Sonntag von April bis Oktober stecken sie den übergroßen Schlüssel in das Türschloss und öffnen die schwere, knarzende Holztür. Mitglieder öffnen 26 Mal im Jahr Die Aufsicht übernehmen die Mitglieder ehrenamtlich und ermöglichen es so Besuchern, den Turm zu erklimmen. Regelmäßig gibt es die &bdquo;1.000-Stufen-Challenge“: Die Teilnehmer müssen den Turm so schnell wie möglich rauf- und wieder runterlaufen. Für ordentlich Puls ist also gesorgt. Und so sollen auch Menschen zum Turm gelockt werden, die vielleicht das &bdquo;Gespinst von Raum und Zeit“ nicht suchen, aber eine neue Herausforderung. 550 Mitglieder zählt der Freundeskreis. Trotz der großen Zahl, sagt Lüer: &bdquo;Wir sind eigentlich kein Verein, wir sind eine Familie“. Schließlich verbringen die Aktiven viel gemeinsame Zeit, wenn sie 26 Mal im Jahr zum Turm kommen, mit dem schweren Schlüssel aufschließen und die ersten Besucher an ihnen vorbei treten. Zusätzlich hat jedes Mitglied die Möglichkeit, den Turm nur für sich selbst zu öffnen. &bdquo;Ich bin gerne hier oben“, sagt denn auch Lüer und schickt schon in seiner ersten E-Mail ein Foto vom gedeckten Frühstückstisch mit Blick über Stuckenberg und Herford. Zu guter Letzt: Der Kuss Für Lüer gehört der Bismarckturm fest zur Hansestadt. Auch wenn der Kult rund um einen Politiker sich heute eher schwerlich nachvollziehen lässt. Mit den Mitgliedern kommen die Kinder und schaffen gemeinsame Erinnerungen. Die Kinder wiederum kommen mit den Enkelkindern; und auch Urenkel waren schon dort. So bleibt der Turm ein intensiver Teil der Herforder Geschichte – fern und doch ganz nah, alt und doch so lebendig im eigenen Leben. Und das macht ihn auch so besonders, findet Lüer: Den Bismarckturm nicht zu besuchen, das sei so, &bdquo;als wenn man nie in seinem Leben geküsst hat. Man hat einfach was verpasst.“

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