Kinderbetreuung in Herford: "Den Kitas steht das Wasser bis zum Hals"

Herr Hoffmann, sie sind als Geschäftsführer des DRK-Kreisverbandes Herford-Stadt für drei Kitas in Herford zuständig. Auch mit den anderen Einrichtungen im Stadt- und Kreisgebiet sind Sie im Austausch. Wie würden Sie die aktuelle Situation in den Kitas beschreiben? Haben wir eine Kita-Krise? Ralf Hoffmann: Ja, auf jeden Fall. Den Kitas steht das Wasser bis zum Hals. Es fehlt an Signalen aus dem zuständigen Landesministerium, die Finanzierung, die das Kinderbildungsgesetz KiBiz vorsieht, ist fatal fehlerhaft, und das von Beginn an. Dazu kommen die fehlenden Fachkräfte - das geht schon damit los, dass Lehrkräfte an den Erzieherschulen fehlen. Nur als Beispiel: Wenn eine so genannte praxisintegrierte Ausbildung, Abkürzung PIA, absolviert wird, dann kostet eine solche Ausbildung insgesamt rund 22.000 Euro. Die werdenden Erzieher gehen in der PIA drei Tage in der Woche in die Kita und zwei Tage zur Schule. Und von den 22.000 Euro zahlt das Land lediglich 4.000 bis 8.000 Euro. Den Rest muss der Träger zahlen. Warum zahlt das Land nicht hundert Prozent, wenn es ein Interesse daran hat, mehr Erzieherstellen zu schaffen und auch besetzen zu können? Das Thema Personal spielt offenbar eine Schlüsselrolle in dieser Krise. Ganz sicher. Und das Problem geht deutlich über den pauschalen Fachkräftemangel hinaus. Alle Maßnahmen, die im Ministerium bis jetzt gestartet wurden, helfen nicht in der aktuellen Krise. Es dauert fünf bis sechs Jahre, bis es spürbare Effekte gibt, wenn zum Beispiel der Ausbildungszugang erleichtert oder Werbung für den Erzieherberuf gemacht wird. Wir brauchen aber jetzt Mitarbeiter. Insgesamt ist das eine herausfordernde Situation, die gerade am politischen Scheideweg steht. Die Frage ist, wie der Bereich der frühkindlichen Bildung inhaltlich, finanziell und politisch ausgestaltet und umgesetzt werden kann. Was bedeutet die derzeitige Situation für die inhaltliche Arbeit? Wir haben die Vorgabe vom Ministerium, dass wir Bildungsarbeit leisten sollen. Gleichzeitig haben wir weniger Personal und zunehmend verhaltensoriginelle Kinder in den Einrichtungen. Es werden also Ziele gesetzt, steigende Anforderungen formuliert und gleichzeitig Mittel verweigert seitens der Politik. Klar, dass das nicht funktioniert. An was genau fehlt es den Einrichtungen? Es fehlt Geld. Und es fehlt Personal. Und beides fehlt akut. 2026 soll es eine KiBiz-Reform geben. Das ist viel zu spät. Helfen würde zum Beispiel eine Diskussion darüber, die Einrichtungen auch für Menschen aus anderen Berufen zu öffnen. Es gibt viele, die Kompetenzen mitbringen. Zum Beispiel eine Mutter, die bereits vier Kinder erzogen hat. Natürlich geht das nur begleitend, unter Anleitung von Fachkräften. Aber bisher gibt es da keine Zugangswege. Alltagshelfer dürfen nicht pädagogisch arbeiten. Oder auch Rentner, die stundenweise gerne weiterarbeiten würden. Oder Eltern, die helfen und sich was dazuverdienen wollen. Warum gibt es diese Möglichkeiten nicht? - Die würden akut helfen. Und zusätzlich bräuchte es Wege zur Nachqualifizierung im Erzieherbereich. Was wünschen sich die Kita-Träger? Eine auskömmliche Finanzierung mit Raum und Luft zur Entwicklung. Konkret wäre das zum Beispiel die hundertprozentige Übernahmen der Personalkosten. Und grundsätzlich natürlich mehr Fachkraft-Stunden und dass die Situation der jeweiligen Kita besser angeschaut wird, zum Beispiel im Hinblick darauf, wie viele verhaltensoriginelle Kinder spezielle Förderung brauchen. Dafür braucht es dann eben auch mehr Personal. Was wollen die Mitarbeitenden? In erster Linie mehr Anerkennung ihrer Arbeit. Der fairen Bezahlung und zusätzlichen Ausgleichzeiten sind wir ja jetzt mit dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ein paar Schritte näher gekommen. Allerdings steht auch in den Sternen, wer das bezahlen soll. Und die Tatsache, dass unsere Fachkräfte den Bedarf der Kinder, die speziell gefördert werden müssen, natürlich sehen, ihn aber oftmals nicht erfüllen können, weil die Zeit fehlt, frustriert. Sie würden sich mehr Zeiten wünschen, wo sie mit einzelnen Kindern arbeiten können. Was ist für die Eltern am wichtigsten? Eine verlässliche pädagogische Arbeit, mit der ihr Kind gefördert wird und sich entwickeln kann sowie eine kompetente Begleitung für ihr Kind. Außerdem natürlich verlässliche und familienfreundliche Öffnungszeiten - hier ist in letzter Zeit einiges schon weggebrochen. Und was brauchen die Kinder? Sie wünschen sich eine Kita, in der sie sich spielend gut entwickeln können. Erzieher, die Zeit für sie haben. Kinder wollen gesehen und gehört werden. Und sie brauchen Freiraum, genauso wie Routinen und Sicherheit. Wie wichtig ist Kinderbetreuung für eine funktionierende Gesellschaft und warum? Kinderbetreuung ist das Fundament, auf dem sich Gesellschaft, aber auch die Wirtschaft aufbaut. Einerseits, weil hier bei den Kleinsten schon der Grundstock für ein gesundes Miteinander gelegt wird. Lernerfolge in den ersten Jahren lassen sich durch nichts ersetzen. Und in der Kita erleben Kinder bereits Partizipation, eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sie sich zu mündigen, selbstbestimmten und kritischen Menschen entwickeln können. Der zweite Punkt ist die Entlastung der Familien. Viele Eltern brauchen Erziehungs-Unterstützung. Die Kita kann hier ein Partner auf Augenhöhe sein. Und drittens ist die Kita natürlich Voraussetzung dafür, dass Eltern der Wirtschaft ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen können. Nur wenn sie sicher sein können, dass ihr Kind bestens versorgt ist und gefördert wird, haben sie den Kopf frei, um ihre Arbeit richtig zu erledigen. Und das wiederum betrifft nicht nur die Eltern selbst. Denn Mütter und Väter sind schließlich nicht bloß Eltern. Sie sind auch Ärztinnen, Altenpfleger oder Verkäufer. Unter der Kita-Katastrophe leiden also auch Patienten, die nicht mehr versorgt werden. Alte, die nicht gepflegt, Kundinnen, die nicht bedient werden. Also unterm Strich die ganze Gesellschaft. Wer ist jetzt in dieser Kita-Krise gefordert? Was muss passieren? Die Politik ist gefordert. Die Landesregierung, Ministerin Josefine Paul und nicht zuletzt natürlich Ministerpräsident Hendrik Wüst. Sie alle müssen sich klar zu den Themen und Problemen bekennen und noch vor den Sommerferien verbindliche Nothilfeprogramme mit auskömmlichen Finanzierungen vorlegen. Sie müssen Lösungsvorschläge machen für die Personal-Misere. Und auch die Frage nach der Verantwortung unserer Landtagsabgeordneten muss erlaubt sein. Schließlich wurden sie gewählt um die Menschen ihrer Region zu vertreten, und sie können sich nicht damit rausreden, kein Bildungspolitiker zu sein. Und wie sind die Aussichten, wenn sich so schnell nichts verändert? Dann werden die Träger in den Einrichtungen über kurz oder lang das Licht ausknipsen müssen. Sonst würden sie Defizite machen. Eine viergruppige Einrichtung mit einem Budget von rund 800.000 Euro schreibt unter den aktuellen Rahmenbedingungen ein rechnerisches Defizit von 60.000 bis 80.000 Euro im Jahr 2023 und für das Jahr 2024 noch einmal. Da braucht man nicht lange zu überlegen, was die Träger dann machen. Und dann haben die Kommunen das Problem an der Backe, denn Kinderbetreuung ist für die eine Pflichtaufgabe. Die können sie ohne die Träger aber nicht mehr erfüllen. Dabei ist das Ganze eigentlich kein Geldproblem, sondern ein Verteilungsproblem. Denn im Landeshaushalt wäre ja Geld. Die Prioritäten müssten nur verändert werden. Im Moment ist das alles ein Pokerspiel auf Kosten von Kindern und Familien. Aber die Hoffnung, dass bald etwas passiert, habe ich noch nicht ganz aufgegeben.

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