Kinder werden vom Jugendamt Herford immer häufiger aus ihren Familien genommen

Herford. Für Familien ist es eine absolute Horror-Vorstellung: Ein Mitarbeiter vom Jugendamt kommt und nimmt das Kind oder die Kinder mit. Diese &bdquo;Inobhutnahmen“ dienten – wie die behördlich verwendete Bezeichnung schon selbst beinhaltet – vor allem aber dem Schutz des Kindes, macht Jugendamtsleiter Andreas Spilker im NW-Gespräch deutlich. Deshalb sei es wichtig, dass das Jugendamt die gesetzliche Möglichkeit habe, das Elternrecht vorübergehend außer Kraft zu setzen. Die Gründe für eine Inobhutnahme können zum Beispiel Misshandlungen, Vernachlässigung oder Überforderung der Eltern sein. &bdquo;Es muss eine Institution wie uns geben, die so etwas machen kann – auch wenn es immer nur das letzte Mittel ist und wenn auch im weiteren Verlauf immer das erste Ziel ist, dass die Kinder in die Familien zurückkehren können.“ Dieses &bdquo;letzte Mittel“ findet allerdings häufiger Anwendung, als vielleicht vermutet. Im Jahr 2022 gab es in Herford 72 Inobhutnahmen durch das Jugendamt. &bdquo;Die aktuelle Situation in der Jugendhilfe ist (. . .) gekennzeichnet durch steigende Fallzahlen im Bereich der Kindeswohlgefährdungsmeldungen, der Inobhutnahmen, der Hilfen zur Erziehung sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich“, heißt es in einer Vorlage für den Jugendhilfeausschuss aus dem Dezernat für Bildung, Jugend und Soziales, dem der Beigeordnete Patrick Puls vorsteht und zu dem auch das Jugendamt gehört. Bereits im November des vergangenen Jahres wurde über das Thema beraten und auch ein Auftrag an die Verwaltung erteilt. Plätze der freien Jugendhilfeträger reichten nicht mehr aus Anlass war vor allem die Tatsache, dass in Fällen von Inobhutnahmen keine freien Plätze zur Verfügung standen, wo die Kinder unterkommen konnten. Die Plätze der freien Jugendhilfeträger für diese Notsituationen reichten aufgrund der erhöhten Nachfrage oftmals nicht mehr aus. &bdquo;Zurzeit gibt es ein Unterangebot an bedarfsgerechter Versorgung durch freie Jugendhilfeträger sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich der Hilfen zur Erziehung, mit allen daraus resultierenden Folgen für die Familien, Jugendlichen und Kinder“, wird die aktuelle Situation beschrieben. Jugendamtsleiter Andreas Spilker führt das Problem noch weiter aus: &bdquo;Wir haben mittlerweile im Jugendamt zwei Not-Schlafplätze eingerichtet, wo Kinder erst einmal bleiben und durch Jugendamtsmitarbeiter betreut werden können.“ Schließlich habe das Jugendamt in Fällen von Inobhutnahmen automatisch die Fürsorgepflicht für die Kinder. &bdquo;Deshalb ist es auch schon vorgekommen, dass Mitarbeiter Kinder erst einmal mit zu sich nach Hause genommen haben, bis ein geeigneter Platz für den Übergang und auch für die Diagnostik gefunden war“, so Spilker. Diagnostik meint in diesem Fall, dass in der Zeit, in der die Kinder oder Jugendlichen aus den Familien heraus sind, die Umstände in der Familie geprüft werden und dass die Zeit genutzt wird, um die Rahmenbedingungen – wenn möglich – so zu verändern, dass eine Rückkehr in die Familie möglich wird. Oder es wird der Schluss gezogen, dass das eben nicht möglich ist. Der Standort für eine solche Einrichtung in Herford ist noch fraglich Der Jugendhilfeausschuss der Stadt Herford hat die Verwaltung des Jugendamtes nun Ende des vergangenen Jahres damit beauftragt, &bdquo;eine kommunale Inobhutnahme- und Diagnoseeinrichtung zur bedarfsgerechten Betreuung für die Zielgruppe der Kinder bis zwölf Jahre zu entwickeln“. Das heißt, die Stadt will selbst in kommunaler Trägerschaft dafür sorgen, dass weitere Plätze für gefährdete Kinder entstehen. Im Kreis Herford gibt es bislang nur freie Träger, die diese Plätze anbieten, zum Beispiel die Jugendhilfe Schweicheln oder – für Kinder bis zwölf Jahre – der Sozialdienst Katholische Frauen. Letzterer bietet Inobhutnahmeplätze im Rahmen von Bereitschaftspflegestellen an. Lediglich die Stadt Bielefeld hält auch kommunale Plätze bereit. Als kommunale Ergänzung seien derzeit drei Plätze für Inobhutnahmen und zusätzlich fünf Plätze für Diagnostik geplant, so Sozialdezernent Patrick Puls auf Anfrage. Wo, also in welchem Gebäude, diese Plätze entstehen könnten, sei derzeit allerdings noch nicht konkret. "Wir sprechen hier von Notsituationen" Aus Sicht des Jugendamtsleiters, der Ende März in den Ruhestand geht und die Leitung an seine aktuelle Stellvertreterin Tanja Stölting übergibt, ist eine schnellstmögliche Entspannung der derzeitigen Situation dringend notwendig. &bdquo;Die Mitarbeitenden des Jugendamtes brauchen mittlerweile mehrere Tage, um überhaupt einen Unterbringungsplatz für Kinder und Jugendliche zu finden – und wir sprechen hier von Notsituationen“, so Spilker. Zunehmend stünden vor allem für Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Betreuungsaufwand kaum noch freie Plätze zur Verfügung. Für Kinder und Jugendliche, die akut unterzubringen sind, gebe es derzeit oft nur Zwischenlösungen und mehrere Wechsel der Bezugspersonen oder Einrichtungen, bis ein Betreuungsplatz für eine dauerhafte Unterbringung zur Verfügung steht. Das sei für die Kinder und Jugendlichen katastrophal. Deshalb arbeitet das Jugendamt nun mit Hochdruck an der Konzeption der geplanten kommunalen Einrichtung, die Abhilfe schaffen soll. Auch Andreas Spilker ist zunächst noch an der inhaltlichen Ausgestaltung beteiligt. &bdquo;Das ist sehr spannend“, findet er und hat auch einen großen Wunsch für seinen Ruhestand: &bdquo;Es wäre super, wenn ich von außen beobachten könnte, wie dieses Vorhaben bis Anfang 2025 erfolgreich umgesetzt wird.“

Meistgelesen