Alkohol am Lkw-Steuer: In der Branche gelten die Probleme als hausgemacht

Herford. Am Montagmorgen konnte erst ein Stahlmast einen Lastwagenfahrer stoppen: Der Mann hatte nach dem Abbiegen auf die Bielefelder Straße das Lenkrad nicht wieder in Fahrtrichtung geradeaus gedreht. Er hatte 2,7 Promille im Blut. Am Tag darauf fanden ihn Mitarbeiter des Abschleppunternehmens auf der Ladefläche seines Aufliegers - dieses Mal so betrunken, dass sie den Rettungsdienst riefen. Alkoholismus am Steuer eines Lastwagens - ein Einzelfall? Eher nicht, meint Jörg Schwerdtfeger, der selbst 17 Jahre lang als Lkw-Fahrer auf den Straßen unterwegs war. Der Personalscout in einer Herforder Spedition betreibt neben seinem Beruf die Facebook-Seite "Ich bin Berufskraftfahrer und habe Respekt verdient", die fast 46.500 Abonnenten hat. Er setzt sich für die Belange der Kollegen ein, versucht politisch Einfluss zu nehmen und gibt Journalisten Auskunft über den Zustand der Branche. Und der ist nicht gut. "Bis 2022 werden mindestens 150.000 Fahrer fehlen" Darauf deutet schon einer seiner Posts auf seiner Facebook-Seite hin: "Bis 2022 werden mindestens 150.000 Fahrer fehlen." Die Fahrer seien schon jetzt zu 60 Prozent aus dem Ausland, schätzt Schwerdtfeger. Vor allem den polnischen Spediteuren sei polnisches Personal zu teuer, deshalb beschäftigten sie Ukrainer. Und die kämen oft monatelang nicht nach Hause. Auch der Unfallfahrer auf der Bielefelder Straße war Ukrainer und fuhr für ein polnisches Unternehmen. Schlecht bezahlt, in einem Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, und monatelang ohne soziales Umfeld: Freitags-, samstags- und sonntagsabends lasse sich auf Raststätten und Parkplätzen gut beobachten, dass Fahrer zusammensitzen und auch Alkohol trinken, sagt Schwerdtfeger. "Ich möchte nicht wissen, wie viele davon unter Strom fahren." Gerade auf der A2, der Hauptschlagader im Ost-West-Verkehr. Schwerdtfeger betont, dass viele der Fahrer, deutsche wie ausländische, sehr verantwortungsbewusste Menschen seien. Beispielhaft nennt er den irakischen Auszubildenden in seinem Unternehmen, "ein ganz wunderbarer Mensch". Alkohol am Steuer ist für ihn aber ein No-Go, egal ob im Pkw, im Lkw, auf dem E-Scooter oder dem Moped. Nur sehen das nicht alle so. Ausländische Fahrer sehen oft monatelang ihre Familien nicht Den NW-Bericht über den Unfall am vergangenen Montag hat der 55-Jährige auf seiner Facebook-Seite geteilt. Er wurde rund 380 Mal geliked, 200 Mal kommentiert und 90 Mal geteilt. Das zeige, wie sehr das Thema die Leute beschäftige. Was Schwerdtfeger erschreckt hat, waren vereinzelte Kommentare, dass man selbst am Abend ja auch mal ein Bier trinke, die neben vielen Forderungen standen, den Unfallfahrer nie wieder ans Steuer zu lassen. Für ihn steckt mehr dahinter: "Die rechtfertigen ihren eigenen Alkoholkonsum." Ausländische Fahrer ohne Sprachkenntnisse diskutieren auf der Facebook-Seite nicht mit. Für Ronald Pohlmann, der ebenfalls in einem Herforder Speditionsunternehmen beschäftigt ist, sind das die ärmsten unter allen Kollegen in der Branche: zwei Wochen auf Achse, eine Woche zu Hause, sofern sich der Heimweg überhaupt lohnt, 45 Stunden Wochenendpause, die der Fahrer eigentlich nicht im Lkw verbringen darf, zählt er auf. Aber es fehlten Hotels und verschließbare Lkw-Stellplätze. "Diesel- und Waren-Diebstähle sind ein Riesenthema." Und nicht einmal die vorhandenen Stellplätze reichten, trotz zusätzlicher Raststätten wie den beiden Lipperland-Parkplätzen. Die Politiker hätten darauf gesetzt, dass der Markt das Problem löse, dass zum Beispiel Fahrer-Hotels entstünden. Aber: Fehlanzeige. Lastwagen fahren halb leer, weil der Kunde alles möglichst sofort haben will Die Schuld für die schlechte Situation der Lkw-Fahrer sieht Pohlmann beim Verbraucher: Der will alles möglichst billig und sofort. Versprechen wie die, am nächsten Tag zu liefern, seien ein sehr hohes Gut, mit dem Versandunternehmen wie Amazon Kunden akquirierten. Sie führten aber dazu, dass Lastwagen halb leer, etwa mit 13 Paletten Ware statt der möglichen 30 fahren. "Die Konsequenzen, die das hat, malt sich keiner aus." Pohlmann sagt voraus, dass der zunehmende Bedarf an Fahrern noch zu Versorgungsprobleme in Deutschland führen wird. Auch viele Mitglieder der Facebook-Gruppe Schwerdtfegers halten die Probleme der Branche für hausgemacht: "Jahrelang wurde der deutsche Fernfahrer von Politik und Wirtschaft durch Repressalien, zu niedrige Frachtpreise und daraus resultierende schlechte Bezahlung ausgerottet", schreibt dort einer zum Unfall in Herford. "Es fehlen zigtausende Lkw-Fahrer, jetzt muss man mit den ,Fachkräften' leben, die immer die liebsten (billigsten) waren. Es hätte anders kommen können. Aber Geiz ist ja geil. In diesem Falle sogar noch gefährlich." Was aber den schlechten Arbeitsbedingungen geschuldet ist, nicht der Nationalität, wie Pohlmann betont. An ein strukturelles Problem mit Alkohol am Lkw-Steuer glaubt er ebenfalls nicht. Das Bundesamt für Güterfernverkehr kontrolliere die Lastwagen inzwischen so engmaschig, dass ihnen betrunkene Fahrer auffallen würden, sagt er. "Das würden die Mitarbeiter der Polizei melden." Schwerdtfeger hat für seine eigenen Fahrer einen Alkomaten angeschafft, wie ihn auch die Polizei bei Alkoholkontrollen nutzt. Das sei bisher immer gut ausgegangen. Wenn ein Fahrer nicht pusten wolle, dürfe er ihn aber auch nicht dazu nötigen, sagt der 55-Jährige. Dann bliebe nur noch, die Polizei zu rufen. Aber auch das habe es in seinem Unternehmen bisher nicht gegeben.

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