Alles geklaut? Welche Geschichte hinter der Heiligen Pusinna steckt

Herford. Viele hundert Kilometer Wegstrecke hatte der im Nordosten Frankreichs gestartete Zug hinter sich, als er sich im Jahr 860 n. Chr. Herford näherte. Im Gepäck hatten die Reisenden einen seit 350 Jahren toten Frauenleichnam. Äbtissin Haduwi hatte ihn schon sehnlich erwartet. Haduwi war eine der ersten in der Reihe vieler starker Frauen an der Spitze des Herforder Frauenstiftes. Sie war verheiratet gewesen und hatte zwei Söhne erzogen, ehe sie nach dem Tod ihres Mannes die Leitung der noch jungen Frauengemeinschaft übernommen hatte. Herford war nicht irgendeine geistliche Kommune. Kaiser Ludwig höchstselbst, Sohn Karls des Großen, hatte eine Generation zuvor die Stiftung des sächsischen Adligen Waltger zum karolingischen Reichsstift und damit zu einem Zentrum Westfalens gemacht. Sie arbeitete an einer Erfolgsstory Haduwi wollte die Erfolgsstory fortsetzen. Herford sollte ein weithin leuchtendes Zentrum im neuen Osten des karolingischen Reiches werden. Dafür brauchte sie, wie die anderen neuen Zentren, im Stil der Zeit eine Heilige oder einen Heiligen. Doch wie bekommt man im gerade erst ins fränkische Reich integrierten und nur halbherzig zur neuen christlichen Religion bekehrten Westfalen eine solche Symbolfigur? Haduwi wusste, wie es ging. Sie ließ ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zum karolingischen Hof spielen und spannte König Karl den Kahlen persönlich ein. Ihr Bruder Cobbo, Graf und weltlicher Schutzherr des Herforder Frauenstifts, bekam den Auftrag, im Kern des Frankenreichs eine geeignete Heilige zu suchen. Eigentlich eine Skandalgeschichte Was Cobbo auf dieser Reise erlebte, steht in der wenige Jahre später aufgeschriebenen ersten erzählenden Quelle der Herforder Geschichte. Eigentlich ist es eine Skandalgeschichte, immerhin geht es um Diebstahl, Überrumpelung und Entführung. Es ist die Geschichte eines Heiligen-Klaus. So wie die Venezianer die Gebeine des Heiligen Markus aus Alexandria stibitzten, entführte Cobbo den 350 Jahre lang in der Kirche von Binson aufbewahrten und verehrten Leichnam der Pusinna. Diese Pusinna wurde dort in der näheren Umgebung als Heilige verehrt. Dabei hatte sie aus heutiger Sicht gar nichts Besonderes angestellt: 10 Jahre Unterricht mit ihren sechs Schwestern bei einem Priester, zurückgezogenes frommes Leben zuerst beim Vater, nach dessen Tod jungfräuliches, gottgefälliges Dasein auf ihren Gütern – das reichte für eine Karriere als Lokalheilige. Die Nachfrage nach Reliquien überstieg das Angebot Wie Haduwi, die Kontakte ins französische Soissons hatte, ausgerechnet auf Pusinna kam, ist nicht bekannt. Forscherinnen nehmen an, dass sie als Vorbild für die Stiftsfrauen geeignet sein könnte, von denen ein jungfräulich-frommes Leben erwartet wurde. Außerdem überstieg die Nachfrage nach Reliquien das Angebot. Man musste nehmen, was zu kriegen war. Allerdings waren die Leute von Binson einschließlich ihres Bischofs gar nicht amüsiert, als Cobbo kam und nicht nur einige Knochen, sondern gleich den ganzen Leichnam mit nach Herford nehmen wollte. Umstimmen? Nicht möglich Sie wollten ihre Pusinna behalten und leisteten heftigen Widerstand. Auch der berühmte Erzbischof Hinkmar von Reims, der sich für die Herforderinnen einsetzte, konnte sie nicht umstimmen. Also musste der Herrscher persönlich eingreifen. Karl der Kahle fand eine wahrhaft königliche Lösung: Er ließ den Pusinna-Leichnam von seinen Leuten aus der Kirche in Binson ausbuddeln und auf seine Pfalz bringen, wo er ihn Cobbo für den Transport nach Herford überreichte. So hat Haduwis Bruder es später in Herford erzählt. Und so wurde es einige Jahre später aufgeschrieben. Die Beute kam in Herford an Ob es wirklich so war oder ob Cobbo die Entführungs-Story ausgeschmückt hat, ist nicht mehr zu klären. Jedenfalls kam der Graf mit seiner Beute irgendwann im Jahr 860 in Herford an. Jetzt hatte das Reichsstift an der Werre, wie die anderen Zentren in Sachsen auch, eine heilige Attraktion, von der man sich Wunderdinge erzählen konnte. Sogar aus Paderborn und Münster kamen Hilfesuchende ihretwegen an die Werre. Haduwi und ihre Nachfolgerinnen gingen großzügig mit ihrem Reliquien-Schatz um und waren bereit zu teilen: Einzelne Pusinna-Knochen gelangten so nach Wendhausen und Quedlinburg, wo Frauenstifte nach Herforder Vorbild entstanden. Im 10. Jahrhundert erreichten sie im Gepäck des in Herford ausgebildeten Isleif wahrscheinlich sogar Island. Die Wunderwirkung war begrenzt Die ganz große Karriere blieb der neuen Namensgeberin des Stifts und der Stiftskirche allerdings verwehrt, wie die Pusinna-Kennerin Katrinette Bodarwe resümiert. Es gab nun mal nicht genug über sie zu erzählen. Spötterinnen sprechen von der &bdquo;faulen Pusinna", weil ihre Wunderwirkung begrenzt war. Und dass man sie – wenngleich mit königlichem Einverständnis – geklaut hatte, trug auch nicht gerade zur Vertrauensbildung bei.

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