Nach Pandemie: Psychische Erkrankungen, Schulprobleme und nachgeholte Infekte im Kreis Herford

Enger/Spenge. Während der Corona-Pandemie mussten Kinder und Jugendliche häufig hinter den Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zurückstehen. Viele von ihnen kämpfen noch immer mit den Folgen. So berichtete die NW zum Beispiel Anfang des Jahres über den großen Nachholbedarf von Schülern in Enger und Spenge. Wie sehr wirkt sich die Corona-Krise nun nach drei Jahren immer noch auf den Alltag von Kindern und Jugendlichen aus? Die NW hat dazu Experten vor Ort befragt. Christian Halm ist Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche. Seine Praxis am Barmeierplatz in Enger ist seit mehreren Jahrzehnten eine bekannte Adresse zur Behandlung junger Menschen mit verschiedenen seelischen Erkrankungen. &bdquo;Die Pandemie teilt sich in verschiedene Phasen auf“, sagt der Therapeut. &bdquo;Der Beginn von Corona ist das Erdbeben. Das, was wir jetzt mit Verzögerung an erheblichen Störungen sehen, sind die durch das Erdbeben ausgelösten Tsunami-Wellen. Und die sind noch nicht durch.“ Christian Halm verweist auf die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, welche die Auswirkungen und Folgen der Covid-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Rahmen einer Längsschnittstudie untersucht. Die Ergebnisse der letzten Befragungsrunde im Oktober 2022 zeigten, dass der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten immer noch höher liegt als vor der Pandemie. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Halm sieht in dem vorläufigen Ergebnis der Studie einen Spiegel dessen, was mit Kindern während der Corona-Zeit mit all ihren Auswirkungen und Einschränkungen passiert sei. &bdquo;Es gibt einfach einen signifikanten Anstieg ganz bestimmter Symptome“, sagt Halm. Dazu zählten psychische Belastungen wie Ängste, depressive Episoden, sozialer Rückzug, Schlafstörungen und übermäßiger Konsum an Medien. Rücksichtnahme und Höflichkeit fehlen Halm hält es für unerlässlich, als Diskussionsgrundlage zur Aufarbeitung der Corona-Zeit offen mit den Ergebnissen der Copsy-Studie umzugehen. &bdquo;Das Eingestehen von Fehlern, insbesondere die Reflexion im Schulbereich, muss schonungslos erfolgen. Ganz viele Schüler haben – vielleicht für immer – den Anschluss verloren“, so Halm. Denn die Schulschließungen und die daraus oftmals resultierenden Lernrückstände hätten zudem zu einem ganzen Spektrum an Schulproblemen beigetragen – unter anderem zu Schulängsten, Schulschwänzen und Lernstörungen. Hilfestellung für Schüler leistet Dominique Schäfer, die seit August vergangenen Jahres am Widukind-Gymnasium Enger als Schulsozialarbeiterin tätig ist. &bdquo;Mein Eindruck ist, dass sich in der Zeit des Lockdown etwas in den Schülern verändert hat. Die alltägliche Höflichkeit, die gegenseitige Rücksichtnahme und die Frage ’Wie gehe ich mit meinen Mitschülern um?’ sind vor allem in den unteren Jahrgangsstufen Themen, die aufgrund der langen Schulschließungen noch aufgearbeitet werden“, sagt Schäfer. Häufig kämen die Kollegen aus der Lehrerschaft auf sie zu und klagten über unsoziales Verhalten der Schüler im Unterricht. Andererseits nähme sie aber auch die offene Haltung der Schüler gegenüber Gesprächsangeboten zu. Viele würden die Möglichkeit der Sprechstunden mittlerweile regelmäßig nutzen. Auch die Zahl der Ratsuchenden bei der Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder des Kreises Herford hat zugenommen, wenngleich sie sich seit Jahren auf hohem Niveau befindet. Auf Nachfrage der NW teilt Patrick Albrecht von der Pressestelle des Kreises mit, dass viele Ratsuchende längerfristige Beratungsprozesse benötigten und oftmals der Wunsch nach einem zeitnahen und unmittelbaren Beratungstermin bestehe. Es gäbe aber eine Warteliste und nicht alle Anfragen könnten sofort behandelt werden. Scharlach-Infektionen und Lungenentzündungen Franziska Sudbrak, Kinder- und Jugendärztin in Spenge, sieht seit dem Ende des Lockdown, vor allem seit Herbst des vergangenen Jahres, einen massiven Anstieg an Infektionskrankheiten als Folge von ausgebliebenen Kontakten mit anderen Erregern während der Pandemie. &bdquo;Wir sahen im letzten Herbst und Winter eine Flut an Streptokokken-Infektionen, einen Infektions-Tsunami, und der hält im Prinzip noch immer an“, sagt die seit 2005 in Spenge praktizierende Ärztin über das Infektionsgeschehen der vergangenen Monate. Deutschlandweit seien sich Kinderärzte einig, dass es sich in der Intensität um ein nie dagewesenes Phänomen handele. Besonders auffällig sei dabei die große Anzahl an Scharlach-Infektionen und Lungenentzündungen und eine verheerende Zunahme an schweren Verläufen, die eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich machen und sogar in einigen Fällen zum Tod führten. &bdquo;Wir erleben eine Bedrohlichkeit an rezidivierenden und invasiven Krankheitsverläufen bei Patienten verschiedener Altersgruppen, aber auch eben bei sehr jungen Kindern, die während der Corona-Zeit geboren sind. Deren Immunsystem ist durch die Kontaktvermeidung praktisch vollkommen untrainiert geblieben und den Bakterien, die natürlich auch vor Corona da waren, schutzlos ausgeliefert“, erklärt Franziska Sudbrack. &bdquo;Das Immunsystem von Kindern ist ein eifriger Schüler und lernt stetig dazu.“ Somit werde sich die Lage auch mit der Zeit wieder selbst regulieren, wenn die Kinder verstärkt mit Erregern in Kontakt kämen und ihr Immunsystem sich weiterentwickeln würde. Selbst im Erwachsenenalter fände diese Entwicklung noch statt.

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