Frust bei Haupt- und Realschülern: Viele Firmen nehmen lieber Abiturienten für die Lehre

Bünde/Kreis Herford. "Es verletzt schon ein bisschen, wenn man so unterschiedlich behandelt wird", sagt eine 16-jährige Realschülerin. Das Gymnasiasten bevorzugt werden, merke sie jeden Tag. Ihre vier Mitschüler von der Ernst-Barlach-Realschule in Herford nicken zustimmend. Hier auf der Ausbildungsmesse in Bünde hätten sie sich noch nicht diskriminiert gefühlt, aber das liege auch vielleicht daran, dass sie noch niemand auf ihren Schulabschluss angesprochen hätte. Die fünf Schüler haben jeweils eine Papiertüte in der Hand. Kugelschreiber, Prospekte und diverse Werbegeschenke befinden sich darin. Bis auf die 16-Jährige haben sie alle noch keinen Plan, wie ihre Zukunft nach der Schule aussehen soll. "Ich gehe zur Polizei und mache dort mein Abitur", sagt die 16-Jährige. Bei der Bewerbung hätte sie in verschiedenen Prüfungen gegen einen Gymnasiasten antreten müssen. Sie habe besser abgeschnitten und den Ausbildungsplatz bekommen, sagt sie stolz. Die Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt scheint wieder stärker zu werden. Laut einer Studie des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie würden sich wieder mehr Abiturienten für eine Berufsausbildung entscheiden. In den vergangenen zehn Jahren sei der Anteil derer, die mit Abitur eine duale oder schulische Ausbildung beginnen, von 35 Prozent im Jahr 2011 auf 47,4 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. In der gleichen Zeitspanne habe sich der Anteil der Jugendlichen, die mit einem Hauptschulabschluss die Berufsausbildung beginnen, um ein Fünftel verringert. Anspruchsvoller Lehrplan "Es ist immer noch schwierig, gute Auszubildende zu finden", sagt Sabine Niederschierp, Ausbildungsleiterin bei Hermes Einrichtungs Service. Für den Standort in Löhne suche Hermes Auszubildende als Speditionskaufmann- oder Kauffrau. Dafür steht in der Stellenanzeige, dass ein guter Realabschluss Voraussetzung ist. "Wir würden dem Hauptschüler keinen Gefallen tun, wenn wir ihn einstellen würden", sagt sie. Der Lehrplan der Berufsschule sei für diese Ausbildung sehr anspruchsvoll. Diese Erfahrung mussten schon einige Hauptschüler machen. "Die Firma musste in Nachhilfe investieren, der Azubi war gestresst - das bringt keinem etwas", so die Ausbildungsleiterin. Aber es gebe noch andere Ausbildungsstellen bei Hermes, wie zum Beispiel die zum Fachlageristen. Es zählt das handwerkliche Geschick "Die Noten auf dem Papier sind das eine, aber bei uns in der Produktion zählt das handwerkliche Geschick", sagt Ausbilder Timo Iversen von der Firma Egger. Für das neue Ausbildungsjahr suche das Unternehmen für Holzwerkstoffe noch sechs bis acht Azubis als Maschinen-und Anlagenführer am Standort Bünde. Wenn er auf der einen Seite eine Bewerbung von einem Hauptschüler und auf der anderen Seite eine Bewerbung vom einem Abiturienten vor sich auf dem Schreibtisch liegen hätte, dann würde er beide Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch und Probearbeiten einladen, sagt er. Außerdem sei die Gefahr bei einem Abiturienten höher, dass er nach der Ausbildung die Firma für ein Studium verlasse - und das sei eigentlich nicht gewollt. "Wir wollen die, die wir ausbilden, auch behalten." Derzeit seien neun Azubis als Maschinenführer beschäftigt. "Seit dem letzten Jahr sind wir stark dabei, Personal aufzubauen", ergänzt Julian Schirp, Ausbildungsleiter. Das klappe gut. Von einem Fachkräftemangel bei Egger könne er nicht sprechen. "Wir haben uns auch der Generation Z angepasst", so Schirp. Jeder Azubi bekomme direkt nach dem Start einen Laptop von der Firma, die Ausbildungs-und Fahrkosten würden erstattet werden und auch das Angebot eines unbefristeten Vertrags nach der Ausbildung wirke attraktiv auf die Bewerber. Abiturienten neigen zum Studium In die Produktion verschlägt es die beiden Oberstufenschüler Juliana Motoc (20) und Deniz Simik (18) nicht. Sie besuchen die Ausbildungsmesse, weil sie sich umschauen wollen, ob es es noch Möglichkeiten gebe, von denen sie bisher noch nichts gehört hätten. Doch Motoc hat eigentlich ein klares Ziel: Sie will Medizin oder Lehramt studieren, sagt sie. Simik strebt ein duales Studium an. Etwas kaufmännisches. Dafür habe er Hettich im Auge. Dennoch schade es nicht, offen für weitere Angebote zu sein, so die beiden Zwölftklässler der Erich Kästner-Gesamtschule Bünde.

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