Psychische Probleme: Gibt es Therapieplätze für Kinder und Jugendliche?

Bünde. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat rund ein Drittel aller Kinder- und Jugendlichen psychische Probleme. Das hat die sogenannte Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in drei Befragungen seit Mai 2020 nachgewiesen. Bei diesen Kindern wurde mindestens eine psychische Auffälligkeit festgestellt. Das Leben mit Infektionsrisiko und Lockdowns hat bei ihnen Spuren hinterlassen. Gerade wenn Kinder nicht aus stabilen Familienverhältnissen kommen, kann das zu einem ernsten Problem werden. Dann kann ein Kinder- und Jugendpsychotherapeut der Retter in der Not sein. Doch gibt es davon genug? Teilweise Wartezeiten von sechs bis zwölf Monaten &bdquo;Therapeuten gibt es eigentlich genug. Die Kassensitze sind zu wenig“, sagt Julia Steinmeier, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Mit Kassensitzen sind von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL) anerkannte Praxen gemeint. Sie hat in Bünde keinen dieser Sitze bekommen und hat Anfang März eine Privatpraxis in den Räumlichkeiten des Ärztenetzwerks Medizin und Mehr (MuM) in der Viktoriastraße eröffnet. Denn die KVWL geht für den Kreis Herford von einer Überversorgung an Therapieplätzen aus. Doch obwohl Steinmeiers Praxis laut dieser Rechnung eigentlich &bdquo;überflüssig“ wäre, bekam sie in den wenigen Wochen seit ihrer Praxiseröffnung dutzende Anfragen von Familien, die bisher keinen Platz gefunden haben. Wie ist das möglich? Die Anzahl der benötigten Therapieplätze war bereits vor der Pandemie eine große Streitfrage zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung auf der einen Seite und den Psychotherapeuten auf der anderen Seite. Für die KVWL gibt es im Kreis Herford eine Überversorgung von 111,1 Prozent (Stand November 2021). Doch die Ermittlung des tatsächlichen Bedarfs ist deutlich komplizierter. Denn wer tatsächlich Therapie bekommt und vor allem wann, kann auch bei einer guten Versorgung auf dem Papier höchst problematisch sein.Davor warnt Klaus Riedel, Vorsitzender des Arbeitskreises Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten OWL (KJP), bereits seit dem vergangenen Jahr. Der Psychotherapeut vertritt über 100 Kinder- und Jugendtherapeuten. Er selbst ist in Bielefeld tätig. Auch dort gibt es auf dem Papier eine Überversorgung. Trotzdem gebe es für Kinder und Jugendliche häufig Wartezeiten von sechs bis zwölf Monaten auf einen Therapieplatz. &bdquo;Die Wartezeiten sind noch länger geworden“, sagt der Vorsitzende. So lange Wartezeiten können natürlich gerade bei Kindern und Jugendlichen, die eigentlich sofort Hilfe bräuchten, ein Problem sein. "Das ist eine ordentliche Zahl" Kern des Streits zwischen Therapeuten und KVWL ist die Berechnungsgrundlage der Kassenärztlichen Vereinigung. Denn diese Grundlage beruht auf Zahlen aus dem Jahr 1999 und ist aus Sicht von Psychotherapeuten heutzutage nicht ausreichend. Anhand von Verhältniszahlen wird darin festgelegt, wie viele Ärzte und Therapeuten es pro Einwohner geben soll. Über diese Verhältniszahlen entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). Darin sitzen Vertreter von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen.Bei einem Mangel an Fachärzten – das umfasst auch Therapeuten – wird eine Region erst ab 50 Prozent als unterversorgt gezählt. Im als überversorgt geltenden Kreis Herford gibt es laut KVWL insgesamt 51 Kinder- und Jugendtherapeuten, davon zwei in Bünde und einen in Kirchlengern. Allein im Bünder Land gibt es laut dem statistischen Landesamt aber schon fast 11.000 Kinder. Im gesamten Kreis Herford sind es 38.000 Kinder.Natürlich sind dabei auch noch sehr junge Kinder mitgezählt, die noch nicht einmal das erste Lebensjahr vollendet haben. Und natürlich werden nicht alle Kinder psychisch auffällig und nicht alle, die psychisch auffällig werden, brauchen auch direkt einen Therapeuten. Doch selbst bei konservativen Rechnungen gibt das eine Menge Patienten pro Therapeut. &bdquo;Das ist eine ordentliche Zahl“, sagt Steinmeier. Ihre Kollegen würden überrannt und wüssten häufig nicht, wie sie die Patienten aufnehmen sollen. Sie selbst hat in wenigen Wochen rund 30 Anfragen für ihre neue Praxis bekommen. &bdquo;Da sind auch schon einige Anfragen aus Bielefeld dabei“, sagt sie.Privatpatienten finden nur schwer einen Platz Ihre Patienten zeigten verschiedene Symptome. Dabei sind Kinder mit depressiver Symptomatik und sozial Ängstliche, die nach dem Lockdown auf einmal wieder den Schulalltag meistern müssen. Dazu kommen Kinder mit Trennungsängsten, die sich in der Lockdown-Zeit zu sehr an die ständige Anwesenheit ihrer Eltern gewöhnt haben und wenig Lernerfahrungen außerhalb der Familien erleben konnten. Aber auch die Angst, durch Corona eine chronische Krankheit zu bekommen oder die Großeltern anzustecken, hat ihren kleinen Patienten zugesetzt. Klaus Riedel beobachtet bei seinen Patienten zusätzlich noch Angststörungen, Depressionen, Essstörungen und Schlafstörungen. Weil Steinmeier nun keinen Kassenplatz hat, müssen Patienten, die eine gesetzliche Krankenversicherung haben, zunächst eine ganze Menge an bürokratischen Hürden überwinden, um bei ihr eine Therapie in Anspruch nehmen zu können. So müssen sie unter anderem nachweisen, dass die Wartezeit auf einen Therapieplatz bei einem Psychotherapeut mit Kassenzulassung bei ihrem Gesundheitszustand zu lange dauern würde. Steinmeier versucht ihre möglichen Patienten mit einer Handreiche bei diesem Weg zu unterstützen. &bdquo;Die Schwelle soll so gering wie möglich sein“, sagt sie. Doch für die Patienten und ihre Familien kann es natürlich trotzdem anstrengend sein, diesen Aufwand noch zusätzlich auf sich nehmen zu müssen.Entgegen anderen Trends im Gesundheitssystem seien aber auch Privatpatienten bei Therapieplätzen benachteiligt, sagt Steinmeier. Die Kassensitze müssten nämlich zunächst erst eine vorgeschriebene Versorgung von Therapieplätzen für gesetzlich versicherte Patienten vorhalten, um ihren Versorgungsauftrag zu erfüllen. &bdquo;Viele Praxen haben dann keine zeitlichen Kapazitäten mehr, um noch Privatpatienten dazu aufzunehmen“, sagt Steinmeier.Die Antwort der Kassenärztlichen Vereinigung &bdquo;Inwieweit die Pandemie den Versorgungsbedarf in der Kinder- und Jugendpsychotherapie dauerhaft erhöht hat, darüber liegen unseres Wissens noch keine Gutachten vor, auf deren Grundlage eine Anpassung vorgenommen werden könnte“, heißt es von der KVWL auf Nachfrage der NW, ob die Berechnungsgrundlage für Kassensitze nicht aufgrund der Pandemie geändert werden müsste. Der Gemeinsame Bundesausschuss würde eine Anpassung aber diskutieren und noch im Frühjahr darüber entscheiden. Ob sich die Wartezeiten auf einen Therapieplatz dann tatsächlich verkürzen, bleibt abzuwarten.

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