Europa-Experte zum Ukraine-Krieg: "Putin ist paranoid"

Bünde. Mal ballt er die Faust, mal gestikuliert er mit den Händen: 60 Minuten spricht Elmar Brok beim Politischen Aschermittwoch der Bünder CDU – und erklärt dabei die Weltpolitik. Am Vorabend erst aus London zurückgekommen, ist der langjährige Europa-Parlamentarier seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine in ständigem Kontakt mit den Spitzenpolitikern dieser Welt. Brok, viele Jahre Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten der EU, ist so etwas wie Ostwestfalens Außenminister. Kaum ein deutscher Politiker ist in der politischen Welt wohl so gut vernetzt wie der 75-Jährige. Wenn er am Rednerpult im Restaurant &bdquo;Zur Klinke“ steht, haben seine Ausführungen etwas von einer Geschichtsstunde. Brok ist nicht der Oberlehrer, der den Zuhörern trockenes Wissen einpaukt. Manuskript oder Notizen braucht er nicht, wenn er über Russland, Putins Politik oder die Sicherheit in Europa spricht. Brok ist ein launiger Unterhalter, verliert trotz einiger Anekdoten den Ernst der Lage nicht aus den Augen. Als die Bünder CDU den Europapolitiker vor Monaten eingeladen hat, haben wohl nur Experten und Russlandkenner mit einer so schnellen Eskalation in Osteuropa gerechnet. &bdquo;Die Situation ist weniger freudig, als es bei der Einladung aussah. Wir wissen seit Sonntag, dass wir eine Zeitenwende haben und Politik umgestellt werden muss“, sagt Brok. Wie ernst die Lage ist, macht er mit Zahlen deutlich. Laut Brok, der sich auf NATO-Informationen beruft, seien im Konflikt bisher mehr als 5.000 russische Soldaten gestorben. Der Kreml selbst spreche von 500 Toten. Das könne für Putin zum Problem werden. &bdquo;Er hat Angst, dass viele Mütter Russlands ihre Söhne begraben müssen.“ Dabei habe Putin geglaubt, &bdquo;dass die Ukrainer die russische Armee mit Blumen empfangen“. Um die Gewalt zu stoppen und weitere Konflikte zu verhindern, setzt Brok auf ein Zusammenspiel zwischen Aufrüstung und Diplomatie. &bdquo;Stark sein, Stärke zeigen, verhandeln, verhandeln, verhandeln“, sagt der Politiker. Wer redet, müsse stark sein, damit nicht geschossen werde. &bdquo;Dieser Punkt hat in der deutschen und der europäischen Politik zuletzt gefehlt.“ Das waren die wichtigsten Punkte des Abends: Wladimir Putin &bdquo;Leute die ihn kennen, sagen, dass Putin eine dramatische Persönlichkeitsveränderung hat. Wenn man 20 Jahre lang die absolute Macht hat und immer weniger Leute einem die Wahrheit sagen, führt das auf Dauer offensichtlich zu einer Paranoia. Wir müssen sehen, dass Putin sich dazu auch persönlich isoliert hat. Als Olaf Scholz dort war, hat Russland von ihm verlangt, dass er sich im Flughafen noch einmal von Russen auf Corona testen lässt. Das hat mit der Corona-Angst von Putin zu tun. Er soll aus Angst vor der Krankheit selbst enge Mitarbeiter nur an sich rangelassen haben, wenn sie vorher acht Tage in Quarantäne waren. Das heißt: Es kommt eine Paranoia dazu, wo einer anfängt zu spinnen.“ Russland &bdquo;Ich sage kein kritisches Wort gegenüber Russland. Wir müssen dem russischen Volk deutlich machen, dass es im Interesse ist, dass Russland und Europa zusammenarbeiten. Wladimir Putin ist völlig gescheitert mit dem Versuch, am Anfang seiner Präsidentschaft aus Russland ein modernes Land zu machen. Das hat mit den Oligarchen zu tun, die alle wirtschaftliche Entwicklung kaputt gemacht haben. [...] Das sind die Abramowitsches der Welt, die die Rohstoffe unter sich und den Reichtum des Volkes in Yachten und Villen in England und an der Cote d’Azur haben. Ein unvorstellbarer Reichtum. In Monte Carlo haben die Scheichs keine Chance mehr, weil die Russen da sind.“ Atomare Bedrohung &bdquo;Es sind heute in Königsberg russische Atomraketen stationiert, die 500 Kilometer weit fliegen und das Gebiet von sieben EU- und NATO Staaten erreichen können – einschließlich Teile von Deutschland. Putin hat sich schrittweise in eine Situation versetzt, nukleares Drohpotenzial auf die Beine zu stellen, das er jetzt auch benutzt. In Finnland und Schweden denkt man über die NATO-Mitgliedschaft nach. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das zu meinen Lebzeiten noch erleben werde.“ Verteidigungspolitik &bdquo;Wir haben eine Bundeswehr, die Schwierigkeiten hat, bei den NATO-Rapid-Deployment-Forces 5.000 Mann mit Waffen zu versehen. Die Bundeswehr hat eine Bewaffnung, und das wissen die Russen auch, die nach 22 Stunden Krieg beendet wäre. Von den 120 Eurofightern die wir haben, können ganze 5 an einem Krieg teilnehmen, weil wir nur für 5 Eurofighter die Waffen haben. Das ist der Zustand. Spätestens seit der Veränderung der putinschen Politik hätte man deutlich machen müssen, dass Landesverteidigung wieder nötig ist.“ Energieversorgung &bdquo;Energie ist eine Waffe seitdem Feuer erfunden worden ist. Und zu tun, als dass Energie nur Wirtschaft sei, ist verlogen oder dumm oder beides. Über 50 Prozent des deutschen Gases kommt aus Russland. Gegen den Import habe ich nie etwas gehabt. Aber man darf von niemandem so abhängig sein, dass er einen erpressen kann. Es ist nicht nur das Gas. 35 bis 37 Prozent des Erdöls kommen aus Russland. Der staatliche Ölkonzern Rosneft ist Miteigentümer an den fünf größten deutschen Raffinerien. Dann gibt es noch die Lager. Deutsche Unternehmen haben in den letzten Jahren knapp 40 Prozent der Gaslagerhaltungen an Gazprom verkauft. Und die Russen haben nach dem letzten Winter im Frühjahr diese Lager nicht mehr aufgefüllt. Als die Krise begann, hatten sie weniger als 30 Prozent Lagerhaltung. Wir haben keine Auflage gemacht, dass die Eigentümer von Reservelagern in Deutschland Auffüllverpflichtungen haben. Mir wird schlecht. Aber das ist die Beschreibung der Lage, die wir sehen müssen.“ Zum Abschied überreicht der CDU-Stadtverbandsvorsitzende Martin Schuster eine Kiste mit Zigarren an seinen Parteikollegen. Trotz der bekannten Tabak-Nebenwirkungen ist zu hoffen, dass sich die Konfliktparteien bald an einen Tisch setzen und anstatt einer Zigarre eine Friedenspfeife rauchen.

Meistgelesen