
Bünde. Als "Hungerwinter" werden mehrere Kälteperioden bezeichnet, wobei dem Winter 1946/47 wohl eine besondere Rolle zufallen dürfte. Nach einem ausnehmend heißen Sommer, ging dieser Jahreswechsel als der kälteste des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher ein.
Doch was aus heutiger Sicht als ein rein meteorologisches Phänomen erscheinen mag, war für die kriegsgebeutelten Mitteleuropäer lebensbedrohlich. Genaue Zahlen der durch Hunger und Kälte dahingerafften Todesopfer jener Tage sind nicht bekannt. Es müssen jedoch Hunderttausende gewesen sein.
Als Nachwirkungen des Krieges, dem daraus resultierenden Arbeitskräftemangel und der Dürre im vorangegangenen Sommer, hinkte die Produktion von Nahrungsmitteln dem tatsächlichen Bedarf weit hinterher. Erschwerend kam hinzu, dass zahlreiche Anbauflächen im Osten des ehemaligen Reiches nicht mehr genutzt werden konnten, ein Großteil der Bevölkerung von dort aber nach Westen geströmt war und zusätzlichen Bedarf anmeldete.
Was beim Wohnraum durch das Zusammenrücken sowie der zwangsweisen Einquartierung von Geflüchteten und Besatzungssoldaten noch zu bewerkstelligen war, sah bei Lebensmitteln anders aus: Die einsetzende Kriminalität zur Deckung der Grundbedürfnisse führte dazu, dass selbst die Kirche dafür Verständnis zeigte und von dem strikten Befolgen des siebten Gebotes abrückte. Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings bezog in seiner Silvester-Predigt 1946 Stellung und gab den Anstoß, dass "Mundraub und Kohlenklau" gemeinhin als "fringsen" bezeichnet wurden.
Das "braune Gold" wird zur stabilen Währung
Auch im Bünder Land waren "Fringsen", "Hamstern" und Tauschhandel an der Tagesordnung. So soll etwa an der Bahnlinie im Obrock, zwischen Bünde und Kirchlengern, so manches Stückchen Kohle von den Transportzügen - die den Brennstoff vom Bergwerk aus Ibbenbüren direkt zum EMR-Kraftwerk - brachten, "gefallen" sein. Neben den einseitigen Vorzügen solcher "Besitzübertragungen", etablierte sich in der Stadt an der Else verhältnismäßig schnell auch eine recht "stabile Währung" die den Schwarzhandel beflügelte, die Zigarre.
Nahezu alles schien im Tausch mit dem "braunen Gold" erhältlich gewesen zu sein. So wundert auch die folgende Anekdote nicht: Als sich bei Familie Schmeding, die ihr Haus an der Sedanstraße bis 1948 an die britischen Besatzer hatte abtreten müssen, nunmehr in Dünne unerwartet "reichhaltiger" Nachwuchs von Zwillingen einstellte, kam die sieben Jahre ältere Schwester ins Grübeln. Schließlich fragte sie den bei Arnold André beschäftigten Papa, ob denn eine Kiste Zigarren im Tausch für beide Knaben zusammen oder jeweils eine "fällig gewesen wäre".
Aber nicht nur im landwirtschaftlich geprägten Dünne ist in der Erinnerung der damals kindlichen Zeitzeugen kaum von Hunger oder Kälte die Rede. Da ein Großteil der Bevölkerung selbst zu den Erzeugern zählte oder zumindest mit einem Landwirt verwandt war, stellte die Versorgung mit Lebensmitteln meist kein allzu großes Problem dar. Auch der Wohnraum, abgesehen von dem quantitativen Mangel, war im Bünder Land weitestgehend von den Kriegs-einwirkungen verschont geblieben und fiel daher rückblickend auch kaum negativ ins Gewicht.
Anders gestaltete sich die Situation bei den "Heimatvertriebenen" aus dem Osten und den aus den zerbombten Regionen, wie etwa dem Ruhrgebiet, zugezogenen Neu-Bündern. Hier fehlten oft die verwandtschaftliche Bande sowie der eigene Grund und Boden, auf dem etwas hätte angebaut werden konnte. Viele ergänzten ihren täglichen Speiseplan durch "Hamster-Touren" bis ins Oldenburgische oder tauschten die ihnen verbliebenen, letzten Wertgegenstände gegen Lebensmittel ein. Jedes noch so kleine Gartenstück, aber auch Teile des heutigen Steinmeister-Parks, wurden kurzerhand in Gartenland verwandelt.
Allen gemeinsam blieben jedoch zum Beispiel die Erinnerungen an das aus Mais-Mehl gebackene Brot, das anhand von Lebensmittelmarken in der staatlich zugeteilten Menge als Grundnahrungsmittel diente. Der im Rückblick als "sehr gewöhnungsbedürftig" charakterisierte Geschmack wurde - so weit möglich - durch einen mehr oder minder dicken Aufstrich aus Rübenkraut übertüncht, das wiederum aus selbst angebauten Rüben und unter andauerndem Rühren in der "Krautküche" der Familie Berger in Randringhausen entstand.
Bergers Krautküche lag, wie viele zum Teil weit verstreute landwirtschaftliche Anwesen auch, in einer recht einsamen Gegend. Daher wundert es nicht, dass sich die einzelnen Gemeinden gegen Diebstähle und Plünderungen zu Schützen suchten. So soll in Südlengern mit dem gelernten Maurer Gustav Bredenkötter, nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, ein in Diensten der Gemeinde beschäftigter Nachtwächter nach dem Rechten gesehen haben.
So manches Schwein wurde "schwarz" geschlachtet
So manches Schwein ist damals "schwarz" geschlachtet worden, um dessen Speck und Fleisch dem über die Lebensmittelmarken organisierten Verteilprozess zu entziehen. Peinlich nur, wenn sich ein "schwarzes" Schwein auf dem Weg zur (geheimen) Schlachtbank in der Innenstadt losgerissen hatte, wie sich der damals siebenjährige Rolf Henkel erinnert. Zwischen dem damaligen Rathaus an der Hangbaumstraße und dem ehemaligen Finanzamt wurde der rosa Borstenträger durch die Eschstraße verfolgt.
Obwohl heute mit einem Schmunzeln in die Ecke der "Kavaliersdelikte" gerückt, wurden solche Verstöße gegen die von der britischen Militärverwaltung erlassenen Richtlinien durchaus verfolgt. Das musste auch der 14-jährige Werner Riepe aus Ennigloh erfahren. Er hatte sich bei der geltenden Ausgangssperre um zehn Minuten verrechnet und musste daraufhin eine ganze Nacht im ehemaligen Zellentrakt des Amtsgerichts verbringen.
Auch Werner Riepe kann sich nicht an Hunger und Kälte erinnern. Im Gegenteil: Zum einen lag das Haus der Familie außerhalb des von den Engländern beanspruchten Bereiches und zum anderen half der Jugendliche in der für die Soldaten eingerichteten Behelfsküche aus. Obwohl er das Kartoffelschälen nicht beherrschte, war dies seine erste Arbeit in britischen Diensten. Und auch seine Mutter hatte mit dem Waschen der Küchenwäsche eine zusätzliche Einnahmequelle gefunden.
Die Familie genoss daraufhin einige Vergünstigungen: Zum einen durfte der Junge täglich Küchenabfälle zur Verpflegung des eigenen Hausschweines mitnehmen. Zum anderen meinte es der Koch gut mit ihm und versteckte in den Speiseresten Leckereien, die daheim sorgfältig gereinigt als Sonntagsbraten kredenzt wurden. Der heute 85-jährige Zeitzeuge beschreibt diese Zeit als das vielzitierte Leben der "Made im Speck".
Das Buch
- Der Titel des neuen Buches lautet "Der Hungerwinter 1946/47 in OWL", es enthält Zeitzeugenberichte nicht nur aus dem Bünder Land, sondern aus ganz OWL.
- Das Buch ist in der Bünder Geschäftsstelle der NW leider schon ausverkauft.
- Darüber hinaus kann es aber noch über den Buchhandel bezogen werden.
- Das erste Buch der NW-Edition "Friedliches Fest", das im vergangenen Jahr zu Weihnachten erschienen ist, ist in einer zweiten Auflage ebenfalls wieder verfügbar und kostet 14,95 Euro.