
Bünde. In den Tagen rund um den 9. November wird traditionell den einst zahlreichen jüdischen Mitbürgern und ihrem kollektiven Schicksal gedacht. Einem Schicksal, das der jüdischen Glaubensgemeinschaft durch den Nationalsozialismus aufgezwungen wurde und bekanntermaßen in einer der größten menschlichen Tragödien mündete. Doch neben dem Ergehen ganzer Opfergruppen macht insbesondere das Schicksal Einzelner die ganze Tragweite des NS-Rassenwahns deutlich. Und selbst wenn einzelne Personen nicht direkt betroffen waren, weil - wie bei unserem Beispiel - längst verstorben, hat das Auslöschen der Synagogen-Gemeinden und die Zerstörung der dort geführten Archive die Spuren auch dieser Menschen verwischt.
Eine Orgel im jüdischen
Gottesdienst war damals revolutionär
Erstaunlich ist im Vergleich zum Ausmaß der Vergehen gegen die lebenden jüdischen Mitbürger jedoch die Anzahl der erhaltenen Friedhöfe und Grabfelder. Und obwohl die - in aller Regel gesetzten und zum Teil erhaltenen - Grabsteine nur wenige Informationen bereithalten, umreißen sie doch die Lebensdaten und vielleicht auch noch die Tätigkeitsbereiche zahlreicher Menschen. Wie auch bei Salomon Blumenau, einem Sohn der späteren Zigarrenstadt, der überregional gewirkt und damit seine Spuren hinterlassen hat. Spuren bis hin zum gut 112 Jahre alten Grabstein auf einem Friedhof in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover.

Die jüdische Familie Blumenau wird nicht erst in Zusammenhang mit Salomon in Bünde bereits im 19. Jahrhundert erwähnt. Und obwohl sich anhand diverser Quellen eine ganze Reihe von Namensträgern nachweisen lassen, kann das verwandtschaftliche Verhältnis untereinander aufgrund der bereits erwähnten Zerstörung verlässlicher Unterlagen meist nur erahnt werden. So gab es Kaufleute und Zigarrenfabrikanten, Gefallene des 1. Weltkrieges und Kinder, die das Schulalter nicht erreichen sollten, aber leider auch die Opfer der Nationalsozialistischen "Todesmaschinerie". Ein Spiegelbild Bündes und Deutschlands im frühen 20. Jahrhundert.

Auch eine ganze Reihe unterschiedlicher Wohnorte der Familie bzw. der Familien Blumenau lassen sich nachweisen. So zählen die Hangbaum-, die Fünfhausen- und die Friedrichstraße zu den Adressen, aber auch die Hausnummer 8 an der Bahnhofstraße. Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um das "Stammhaus" der Familie und damit vielleicht auch um das Geburtshaus Salomon Blumenaus gehandelt haben kann. Schließlich ist dieses in den 1920er Jahren abgetragene Gebäude bereits gut einhundert Jahre zuvor im sogenannten Urkataster - der ersten verlässlichen Aufzeichnung der Häuser und ihrer Lage in unserer Stadt - eingezeichnet. In einer Zeit, als der vorbeiführende Straßenzug noch ohne offiziellen Namen auch als Judengasse oder -straße bezeichnet wurde.
Wie dem auch sei - Salomon Blumenau wurde am 8. Juni 1825 in Bünde geboren. Die bekannten Quellen zu seinem Leben beschreiben den Vater als Viehhändler und geben mit dem Jahr 1838 einen für heutige Begriffe verhältnismäßig späten Zeitpunkt der Einschulung an. Unterrichtet wurde Salomon zunächst in Lübbecke. Weitere Stationen seiner Ausbildung waren dann Münster und Soest, wo er schließlich 1846 sein Lehrerexamen ablegen sollte. Zunächst folgte eine Beschäftigung als Hauslehrer, ehe er 1852 als Lehrer und Kantor in der jüdischen Gemeinde in Fritzlar tätig wurde.
Blumenau war wegen seiner liberalen Interpretation des Judentums umstritten
Die Gemeinde in Fritzlar war jedoch schon vor Blumenaus Dienstantritt zerstritten, und so wundert es nicht, dass der als liberal geltende Salomon auf Bestreben des orthodoxen Gemeindeteils nicht nur Fritzlar, sondern auf ministeriale Anordnung gleich ganz Hessen verlassen musste. Daraufhin zog es ihn wieder in die Ostwestfälische Heimat, wo er in Bielefeld die Leitung der jüdischen Grundschule übernahm und in der Synagoge predigte. Auch hier war Salomon Blumenau wegen seiner liberalen Interpretation des Judentums nicht unumstritten. Der darüber hinaus als Freimaurer aktive Pädagoge soll als einer der ersten Verantwortlichen einer jüdischen Gemeinde eine Orgel in den Gottesdienst eingeführt haben - damals revolutionär.
Erst nachdem die jüdische Elementarschule Bielefelds geschlossen wurde, wechselte er als (Religions-)Lehrer an verschiedene höhere Bildungsanstalten. In dieser Zeit setzte er durch, dass Religion als Abiturfach anerkannt wurde (ein Verdienst, das ihm nachfolgende Generationen sicherlich vielfach gedankt haben dürften). Der Gemeinde am Fuße des Teutoburger Waldes hielt er als Vorsteher bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1889 die Treue, wie auch dem von ihm mitbegründeten "Israelitischen Lehrerverein". Und noch im fortgeschrittenen Alter soll er als Delegierter an Veranstaltungen des "Israelitischen Gemeindebundes" in Berlin teilgenommen haben.
Dieser Unruhe in seinem Wirken scheinen auch die noch mehrfachen Umzüge geschuldet zu sein. Denn nachdem er Bielefeld verließ, wurden Kassel, Hameln und schließlich Hannover seine weiteren Wohnorte. Während sich Kassel und Hameln nur als Zwischenstationen erweisen sollten, beendete Salomon Blumenau seinen Lebensweg in Hannover. Denn dort starb der Lehrer und Prediger am 23. Januar 1904 und wurde auf dem damals in Nutzung befindlichen jüdischen Friedhof der Leinestadt zur letzten Ruhe gebettet.
Da nach jüdischer Tradition Grabstellen jedoch nicht zeitlich befristet angelegt und nach entsprechender "Nutzungsdauer" eingeebnet werden, lag die Vermutung nahe, die Grabstelle könne bis heute erhalten sein. Schnell war geklärt, dass für das Jahr des Todes Blumenaus eigentlich nur der Friedhof "An der Strangriede" in Frage kommt, der zwischen 1864 und 1924 bevorzugt belegt wurde. Und in der Tat, der Friedhof hat die Jahrzehnte und auch den Nationalsozialismus nahezu unbeschadet überstanden. Obwohl auch hier Anschläge in jüngster Zeit zu beklagen sind.
Im Schatten der Trauerhalle traten die schwarzglänzenden Stelen sofort ins Auge
Neben zahlreichen, eher unbekannten - aber dennoch mit einem Grabstein dauerhaft geehrten - Toten, fallen Namen wie Oppler oder Berliner auf. Während der Architekt Edwin Oppler hier selbst seine letzte Ruhe fand, sind es von Emil Berliner, dem Erfinder des Grammophons und der Schallplatte, zwei Brüder und ihre Angehörigen. Schreitet man die schier endlosen Reihen der Steine ab, fallen immer wieder bekannte Namen wie Elsbach, Rosenthal oder Simon ins Auge. Aber auch hier ist es schwer, Verbindungen zu bekannten Personen und Persönlichkeiten herzustellen.
Die Gräber Salomon Blumenaus und seiner Gattin hat der Autor dieser Zeilen jedoch nicht lange suchen müssen. Gewiss Zufall, denn der gewählte Weg über das knapp 1,5 Hektar große Areal hätte auch anders verlaufen können, doch im Schatten der kleinen Trauerhalle stachen die polierten, schwarzglänzenden Stelen sofort ins Auge. Auch diese Gestaltung - gewiss von anderen in Form und Ausführung noch weit übertroffen - spiegelt ein wenig den liberalen Geist der Bestatteten wieder.
Gebietet die Tradition doch eine eher schlichte und vor allem - wie bei den Menschen vor Gott auch - eine allen Grabsteinen gleiche Gestaltung.