Leiche in Brunnen im Kreis Gütersloh: Als auf diesem Hof eine Mutter ihr Kind tötete

Werther. Grau und zuletzt oft in trübe Luft gehüllt liegt der Hof da. Grau, schäbig, mächtig und düster. Fensterscheiben fehlen oder sind eingeschlagen, an den Mauern Graffiti, während am rechten Deelentor ein Warnschild angebracht ist: Betreten verboten - Lebensgefahr. Dass das Anwesen in den vergangenen Wochen und Monaten entkernt wurde, sieht man von außen nicht. Noch wirkt es wie ein Mahnmal, das seit Jahrzehnten nun schon an die große Tragödie erinnert, die sich hier zwischen dem 5. und 6. Dezember 1977 ereignet hat. Eine Tragödie, die die Menschen in Werther und weit über die Stadtgrenzen hinaus tief erschütterte. Und die am Ende für Entsetzen in der ganzen Republik sorgte. Es ist keine Geschichte, worüber die Menschen noch jeden Tag sprechen; dafür liegt sie zu lange zurück. Aber jetzt, im Zuge der Erleichterung und der Vorfreude darüber, dass der neue Investor Ralf Krahner aus dem Hof Overbeck ein Schmuckstück machen wird und hier in den nächsten zwei Jahren eine moderne Kindertagesstätte und obendrein Wohnungen entstehen, kommen die ganzen Erinnerungen wieder hoch. Sohn liegt bewusstlos im Ehebett Erinnerungen daran, wie der damalige Besitzer und Familienvater (57) nach einer Rennwagenausstellung in Essen nach Hause auf den Hof zurückgekehrt war, der so seltsam verwaist wirkte. Und der bei seiner Suche zunächst seinen Sohn (11) fand, wie er bewusstlos im Ehebett lag. Während von seiner Frau (42) und seiner Tochter (6) jede Spur fehlte. Umgehend verständigte er den Notarzt, der den Jungen ins Bielefelder Krankenhaus Gilead brachte. Parallel dazu schaltete er die Polizei ein. Zehn Beamte durchsuchten noch in der Nacht das Anwesen und fanden zunächst seine Frau. Sie lag - offenbar unter dem Einfluss von Medikamenten und Alkohol - auf einem Lager gebettet auf dem Heuboden; ebenfalls bewusstlos. Das Mädchen blieb erst einmal verschwunden. Doch die Ermittler suchten weiter, suchten die ganze Nacht und den gesamten nächsten Morgen nach ihm. Feuerwehr pumpt Brunnen leer und macht grausige Entdeckung Leise, ganz leise hegten sie die Hoffnung, das kleine Kind möge unter dem Eindruck der Geschehnisse vielleicht einfach davongelaufen sein. Doch dann bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen: Nachdem veranlasst worden war, dass die Freiwillige Feuerwehr den Brunnen im Keller des Hauses leer pumpen sollte, wurde auf dem Grund eine Leiche gefunden. Es war die Leiche des gesuchten Mädchens. Alte Aufnahmen aus einem Bericht vom 8. Dezember 1977 zeigen, wie zwei Bullis, ein VW Golf, ein VW Käfer, ein Opel Kadett und ein Mercedes vor dem Hof Overbeck parkten. Mitglieder der Mordkommission, der Feuerwehr und Staatsanwalt Hans-Dieter Heidbrede waren vor Ort - und standen zunächst vor einem Rätsel: Was war hier bloß geschehen? Während die Antwort nach dem Motiv lange noch unbeantwortet blieb, ergaben die kriminalpolizeilichen Ermittlungen bald ein fürchterliches Bild. Mutter soll ihre Tochter erhängt haben So soll die Mutter am späten Vormittag des 5. Dezember zunächst ihre Tochter an einer Querstrebe der Öltanks im Haus erhängt und den Leichnam später in den Brunnen geworfen haben. Am frühen Nachmittag des 6. Dezember, also erst einen Tag später, soll sie dann versucht haben, auch ihren Jungen zu töten. Der Vorwurf lautete, sie habe ihn zunächst im Bett des Elternschlafzimmers mit einer Strumpfhose erdrosseln, ihn später in demselben Brunnen ertränken und schließlich im Elternschlafzimmer mit Schlaftabletten vergiften wollen, um anschließend selber aus dem Leben zu scheiden. Doch dazu kam es nicht, Mutter und Sohn überlebten. Dass die Mutter ihre Tochter an Öltanks erhängt haben soll, kann der neue Investor Ralf Krahner, ein gelernter Heizungsbauer, nicht nachvollziehen. &bdquo;Ich habe das Haus entkernt und weder eine Heizung noch Öltanks gefunden", berichtete er jetzt im Gespräch mit unserer Zeitung. Tatsächlich lässt sich dieser Widerspruch heute nicht mehr ohne Weiteres aufklären. Für den Vater war es schon das zweite Drama Was Zeitzeugen aber berichten, ist: Der Sohn, für den nach dem Familiendrama &bdquo;eine neue Umgebung" gefunden worden war, in der er sich habe &bdquo;erholen und entwickeln" können, soll seinem Leben als Erwachsener ein Ende bereitet haben. Für den Vater war diese Familientragödie schon das zweite Drama. Bereits seine erste Ehefrau war auf dem Hof zu Tode gekommen - ein Unglücksfall in der Badewanne Anfang der 1960er Jahre. Knapp zwei Jahre später gelangte der Fall zur Anklage und wurde vor dem Landgericht Bielefeld verhandelt: Die Staatsanwaltschaft hatte die Frau wegen Totschlags und versuchten Totschlags, begangen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit, angeklagt. Sogar das Nachrichtenmagazin &bdquo;Der Spiegel" berichtete im November 1979 darüber. Denn: Obwohl die Frau laut der Richter &bdquo;mit kaum nachvollziehbarer Grausamkeit" getötet und &bdquo;mit einer geradezu unerbittlichen Konsequenz" zu töten versucht habe, wurde sie am Ende des aufsehenerregenden Prozesses freigesprochen. Und: Nicht nur die Verteidigung hatte dabei den Freispruch gefordert, sondern schließlich sogar Staatsanwalt Hans-Dieter Heidbrede. Erbitterter Streit über zwei psychiatrische Gutachten Heidbrede, damals 33, trug laut &bdquo;Spiegel"-Artikel &bdquo;überzeugend, ja, bewegend vor, wie schwer es ihm geworden ist, zu erkennen und anzuerkennen, dass (die Angeklagte) nicht in feindseliger Absicht gegen ihre Kinder oder ihren Ehemann gehandelt hat, dass sie unausweichlich meinte, sterben und ihre Kinder mitnehmen zu müssen". Während der Vorsitzende Richter Eckhard Bergemann, damals 44, &bdquo;bestimmt und einfühlend zugleich" verhandelt habe, wie es weiter heißt. Bis es zu dem Freispruch kam, war allerdings ein erbitterter Streit über zwei psychiatrische Gutachten verschiedener Experten entbrannt. Der eine, langjähriger Direktor des Westfälischen Landeskrankenhauses Eickelborn und 1979 bereits außer Dienst, hatte in seinem Gutachten auf ein &bdquo;neurotisch-psychopathisches Zustandsbild" erkannt und lediglich wegen eines &bdquo;monatelangen Affektstaus und einer zusätzlichen alkoholischen Beeinflussung zur Zeit der Taten die verminderte Schuldfähigkeit" eingeräumt. In einem zweiten Gutachten kam der damalige Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Göttingen hingegen zum Ergebnis &bdquo;uneingeschränkter (...) Schuldunfähigkeit". Die Frau habe zur Tatzeit in einer Phase depressiver Psychose gehandelt, in der ihr das Schändliche und Kriminelle ihrer Handlunge nicht bewusst gewesen sei. Wie der &bdquo;Spiegel"-Autor damals schrieb, trennte die beiden Gutachten &bdquo;ein Ozean" voneinander. "Ich war ganz ruhig, es war so, als ob ich erlöst sei" Laut eines weiteren Zeitungsberichts erläuterte der Vorsitzende Richter damals ausführlich die Lebensumstände und zeichnete das Bild einer Frau, die den Kontakt mit Menschen geliebt habe, als sie ihren Mann 1965 kennen gelernt und zwei Monate später geheiratet hatte. Auf dem Hof allerdings habe sie &bdquo;die Atmosphäre als bedrückend" empfunden und ihren Mann beschuldigt, sie &bdquo;mit Haushaltsgeld knapp gehalten und schikaniert" zu haben. Bis sie Suizidgedanken hegte und auch die Kinder mit in den Tod nehmen wollte: &bdquo;Ohne Mutter wollte ich sie nicht lassen, sie waren mein Ein und Alles", sagte sie damals vor Gericht aus. Und: &bdquo;Ich war ganz ruhig, es war so, als ob ich erlöst sei." Letztlich schloss sich das Gericht den Gutachtern an, denen zufolge von der Frau &bdquo;weitere erhebliche rechtswidrige Taten" in Zukunft nicht zu erwarten seien - und sah von einer Einweisung ab. Für einen Teil ihrer Zeit in Verwahrung wurde ihr sogar eine Entschädigung zuerkannt. Und nun, 46 Jahre nach der Tat beziehungsweise 44 Jahre nach dem Urteil, wird auf dem Hof Overbeck endgültig ein neues Kapitel aufgeschlagen. Erinnerungen an das Drama bleiben unvergessen Ralf Krahner, der in der Nähe von Hof Overbeck am Meyerfeld aufgewachsen ist, räumt zwar ein, dass ihm der Umbau im XL-Format finanziell nichts bringe. &bdquo;Aber ich baue einfach gerne und bin Wertheraner - einer muss es ja machen." Die Erinnerungen an das Drama bleiben unvergessen.

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