Verschwörungstheorien: "Wie Heldengeschichte, die man sich selbst erzählt"

Frau Nocun, Sie sprechen in Ihrem Buch nicht von Verschwörungstheorien, sondern von Verschwörungserzählungen. Warum dieser Unterschied?Katharina Nocun: Wir reden von Verschwörungserzählungen, Verschwörungsideologien oder Verschwörungsmythen, um klar zu machen, dass es sich nicht um wissenschaftliche Theorien handelt. Es gibt einen deutlichen Unterschied, nämlich in der Art und Weise, wie argumentiert wird, wie mit Kritik und wie mit falschen Aussagen umgegangen wird. Es gibt zahlreiche Verschwörungserzählungen, in denen Dinge behauptet werden, bei denen der wissenschaftliche Gegenbeweis längst erbracht ist. Was ist eine Verschwörungserzählung, woran erkenne ich sie?Nocun: Eine Verschwörungserzählung ist eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen. Ich muss dazu sagen, dass diese Definition, die wir für unser Buch verwenden, aus der Psychologie kommt und wir dabei ganz bewusst keine Unterscheidung zwischen Wahrheitsgraden machen. Es geht um die Struktur, die solche Geschichten haben. Im Zentrum stehen dabei starke Feindbilder. In der Praxis ist für viele Menschen ein Verschwörungsmythos allerdings schnell erkennbar, einfach an der Art, wie argumentiert und mit Kritik umgegangen wird. In solchen Gruppen wird Kritik oft als Bestätigung der eigenen Anschauung wahrgenommen. Welche Menschen sind anfällig für Verschwörungsideologien?Nocun: Es gibt das Vorurteil: Die sind alle psychisch krank. Aber das ist wissenschaftlich längst widerlegt. Bei Untersuchungen hat sich gezeigt, dass der Anteil von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gruppe der Verschwörungsgläubigen nicht größer ist als in der Gesamtbevölkerung. Man kann auch nicht sagen, dass diese Menschen weniger intelligent seien. Es gibt zwar einen leichten Zusammenhang zwischen einem niedrigen Bildungsgrad und dem Hang, an Verschwörungen zu glauben. Aber es gibt durchaus auch Menschen mit Doktortitel oder medizinischem Studium, die an eine große Corona-Verschwörung glauben "Zusammenhang zwischen Gefühl von Kontrollverlust und Neigung an Verschwörungsmythen zu glauben" Was macht Menschen für Verschwörungsmythen anfällig?Nocun: Die psychologische Forschung hat festgestellt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Gefühl von Kontrollverlust und der Neigung, an Verschwörungsmythen zu glauben. Und diese Angst vor Kontrollverlust haben jetzt in der Pandemie ja viele Menschen: Angst vor dem Jobverlust, Existenzängste, Stress mit der Kinderbetreuung. In Situationen von Kontrollverlust kann der Glauben, den Plan einer angeblichen Verschwörung zu kennen, ein Gefühl von Kontrolle erzeugen. Selbst wenn dieser Plan apokalyptische Züge trägt. Es gibt plötzlich klare Schuldige – die Verschwörer. Wenn man glaubt, als einer der wenigen die Wahrheit erkannt zu haben, während die anderen schlafen und sich &bdquo;von den Medien berieseln" lassen, kann das Menschen auch das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Das muss man wissen, wenn man mit Verschwörungsgläubigen diskutiert. Diese Menschen beharren sehr auf ihrem Glauben und lassen sich diesen nur ungern wegnehmen. Und das liegt eben an diesem Bild von einem selbst, plötzlich Teil einer erleuchteten Gruppe zu sein. Das ist wie eine Heldengeschichte, die man sich selbst erzählt. Wie ist es, wenn eine Verschwörungserzählung auch ein Körnchen Wahrheit enthält?Nocun: Es gab ja oft wahre Verschwörungen in der Geschichte. Der Water-Gate-Skandal oder der NSA-Skandal sind zwei Beispiele, die oft auch von Verschwörungsideologen angeführt werden. Fakt ist aber, dass diese Verschwörungen nicht von Verschwörungsideologen aufgedeckt wurden, sondern von investigativ arbeitenden Journalisten, von Menschen, die sich an Fakten und Beweisen orientieren und nicht einfach wild spekulieren. Beim Watergate- oder Diesel-Skandal wurden die normalen institutionellen Prozesse durchlaufen, mit Anklagen und Untersuchungen vor Gericht oder in Parlamenten, die das aufgearbeitet haben. Wie kann man Verschwörungserzählern begegnen?Nocun: Wenn man Verschwörungserzählungen im Chat oder im Familien- und Freundeskreis begegnet, sollte man immer darauf reagieren und eingreifen und zumindest sagen, dass man dazu eine andere Meinung hat. Denn Schweigen kann als Zustimmung gewertet werden und dazu führen, dass sich Mythen weiter verbreiten und plötzlich mehr Menschen daran glauben. So etwas kann reale Auswirkungen haben. Etwa, wenn Menschen behaupten, Corona würde nicht existieren oder harmlos sein und sich infolgedessen nicht mehr an Schutzmaßnahmen halten. Wenn einem etwas an einer Person liegt, sollte man darauf hinweisen, wenn Quellen und Behauptungen zweifelhaft sind. "Ruhig und sachlich argumentieren und nie von oben herab" Wie kann ich jemanden überzeugen, dass er irrt?Nocun: Wenn man jemanden überzeugen will, sollte man das Vier-Augen-Gespräch suchen, denn niemand gibt gerne vor anderen zu, dass er sich irrt. Dabei sollte man immer ruhig und sachlich und nie von oben herab argumentieren. Wenn jemand noch nicht stark radikalisiert ist, kann man gut mit Faktencheck argumentieren. Je nach Stärke des Glaubens an die Verschwörungserzählung muss man aber oft viel Geduld mitbringen und nicht zu viel Druck ausüben. Das Selbstbild des Gegenübers wird ja plötzlich in Frage gestellt, wenn dieser zur Einsicht bewegt werden soll, dass er vielleicht monatelang einem falschen Propheten gefolgt ist. Es ist wichtig, bei solchen Prozessen immer eine ausgestreckte Hand zu signalisieren und Geduld zu haben, denn oft braucht es einfach den richtigen Zeitpunkt, um mit Argumenten überhaupt durchdringen zu können. Es gilt dabei, empathisch zu sein und auch zu fragen, wie es der Person gerade geht. Denn der Verschwörungsglaube kann in einigen Fällen auch eine Art Flucht vor privaten Problemen sein. Gibt es Grenzen des Entgegenkommens?Nocun: Bei Antisemitismus und Rassismus sollte man eine klare Grenze ziehen, denn da geht es auch um andere. Denn Verschwörungserzählungen gerade antisemitischer Art können auch Gewalt nach sich ziehen. Welche Rolle spielen die digitalen Medien?Nocun: Verschwörungsideologen setzen heutzutage stark auf soziale Netzwerke und neue Medien. Wer glaubt, früher, vor dem Internet, sei alles besser gewesen, den kann ich nur warnen: Schließlich leben wir in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung an eine antisemitische Verschwörungserzählung geglaubt hat, die im Holocaust mündete. "Wir bleiben eher dran, wenn es immer ein bisschen extremer wird" Wie funktionieren soziale Netzwerke in diesem Bereich?Nocun: Soziale Netzwerke sind nicht als Verursacher zu begreifen, sie können aber als Verstärker wirken. Der Empfehlungs-Algorithmus von YouTube basiert darauf, dass eine künstliche Intelligenz mit den Daten aller Nutzer gefüttert wurde mit dem Ziel, individualisierte Video-Vorschläge zu machen, um Nutzer solange wie möglich am Bildschirm zu halten. Unsere Psyche tickt anscheinend so, dass wir eher dran bleiben, wenn es immer ein bisschen extremer wird. Ich informiere mich übers Joggen, und dann wird mir ein Film über einen Halbmarathon angeboten, dann über das Thema Marathon und so weiter. Das ist im Sportbereich unproblematisch, aber im politischen Bereich kann das durchaus gefährlich sein. Insofern tragen soziale Netzwerke eine Mitverantwortung für die Ausbreitung solcher Erzählungen, es ist aber nicht der einzige Grund. Donald Trump hat von seinen über Twitter verbreiteten Ideologien mächtig profitiert.Nocun: Trump hat die Klaviatur der sozialen Netzwerke sehr gut beherrscht. Aber: Trump hatte während des Vorwahlkampfs im Vergleich zu den anderen Kandidaten mit Abstand die meiste Sendezeit in den klassischen Medien. Natürlich müssen wir über die Rolle der sozialen Netzwerke bei der Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung reden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sich auch die klassischen Medien nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, wenn es darum ging, wie man mit rechtsextremen oder rechtspopulistischen Gruppen umgeht. Haben Sie ein Beispiel?Nocun: Ich habe mich unglaublich darüber geärgert, dass ein großes deutsches Nachrichtenmagazin eine Homestory über einen Antisemiten und Verschwörungsideologen gemacht hat, der früher veganer Koch war. Ich will nicht in einer Welt leben, in der es okay ist, Homestorys mit Rechtsextremisten zu machen. Das wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Das hat mich auch deshalb geärgert, weil dieser Mann in seiner Telegram-Gruppe massiv gegen meine Co-Autorin gehetzt hat. Sie hat daraufhin Drohungen von seinen Anhängern bekommen. Studien zeigen, dass Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, eine höhere Gewaltbereitschaft aufweisen. Mit Verweis auf das große Unrecht einer angeblichen Verschwörung wird auch zu Gewalt aufgerufen. So gut wie alle rechtsextremen Attentäter der vergangenen Jahre, in Deutschland wie in den USA, haben an Verschwörungserzählungen geglaubt. Das ist eine große Gefahr. Denn man weiß nie, wann den Worten auch Taten folgen.

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