Kinder spielen ohne Spielzeug

Schloß Holte-Stukenbrock. Viktor lässt einen Zylinder aus Pappe über den Tisch hüpfen. "Das ist mein Männchen", sagt der Sechsjährige, schnappt sich das Männchen, das in einem früheren Leben mal eine Rolle Toilettenpapier gewesen ist, und hüpft durch den Gruppenraum der Kita Abt Kruse. Für Viktor ist es ein Spielzeug, für Eltern und Erzieher ein Beispiel dafür, wie ein sogenannter spielzeugfreier Kindergarten funktionieren kann. In Stukenbrock gehört das in diesen Tagen zu einem Fastenkonzept der besonderen Art.Auf den ersten Blick fällt auf: Die Regale in dem Gruppenraum sind - leer. Wo sich sonst Spielzeugkisten stapeln, steht an diesem Tag nichts. Bis Ostern soll das auch so bleiben. Nach Karneval haben die Erzieherinnen in der gesamten Kita zusammen mit den Mädchen und Jungen das Spielzeug weggeräumt, was sicherlich auch in den Kinderzimmern der Kleinen zu finden ist: Duplo-Bausteine, Spielzeugautos in verschiedenen Größen und Ausstattungen, Puppen, Puppenstuben, Miniatur-Kaufläden, aber auch Kostüme und Spiele. "Wir haben zusammen mit den Kindern innerhalb von drei Tagen alles ausgeräumt", erklärt Erzieherin Bianca Brüggemann. Die Kinder durften entscheiden, was zuerst weg konnte und was erst am dritten Ausräumtag.Auch für die Erzieherinnen erstaunlicherweise hatten sich Viktor und seine Freunde dafür entschieden, das sofort beiseite zu schieben, mit dem die Kinder in der Kita am Abt-Kruse-Weg am liebsten spielen: Mit den Duplo-Bausteinen, mit denen sich die Welt so leicht und schnell und fast eins zu eins nachbauen lässt, weil dieses System alles bietet - von vorgefertigten Straßen über Häuser, Wohnungseinrichtungen bis hin zu Tier- und Menschfiguren. Allein die Duplo-Eisenbahn ist auch bei den Kitakindern aus Stukenbrock der Renner. Seit Aschermittwoch nun spielen sie hier nicht mehr damit.Die Idee, den Kindergarten eine Zeitlang frei von vorgefertigtem Spielzeug zu halten, sei auf Initiative des Elternrats entstanden, sagt Bianca Brüggemann. "Sie haben sich das gewünscht", die Erzieherinnen machten sofort mit. Die Erwachsenen sammelten dafür eine Zeitlang Alltagsgegenstände, mit denen sich basteln und spielen lässt, die aber noch nichts vorgeben. Pappe, Kartons, Knöpfe zum Beispiel. Das Konzept des spielzeugfreien Kindergartens hatte eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamts Weilheim Schongau bereits 1992 entwickelt. Entstanden war es, weil eine Arbeitsgruppe des Suchtarbeitskreises Weilheim-Schongau ein Projekt zur Suchtprävention für Kinder - und dabei ausdrücklich im Kindergartenalter - entwickeln wollte (siehe Kasten).Suchtprävention - so früh? Bianca Brüggemann nickt. Es gehe auch darum, Kindern zu ermöglichen, positive Erfahrungen zu sammeln, mit einem Verlust zurechtzukommen, auch den Verzicht zu lernen. Die Mädchen und Jungen können ermuntert werden, eigene Ideen zu entwickeln, selbst etwas zu kreieren, sich Geschichten auszudenken, sich selber Spielzeug zu bauen oder zu basteln. In der Kita Abt Kruse klappt das gut. Das macht stark, das kann Kreativität fördern, das Selbstbewusstsein unterstützen."Wir müssen kaum Anregungen geben", sagt Bianca Brüggemann, "die Kinder denken sich selbst etwas aus." Material haben sie dafür, Tücher, Knöpfe, Steine, Kronkoren, Pappzylinder von ehemaligen Toilettenpapier- oder auch Klebebandrollen, Kartons. All das, womit sich eben auch mal was bauen lässt, ohne dass Farbe, Aufdruck oder Gestaltung schon vorgibt, was es ist. Viktor, Philipp (5) und Georg (5) haben erst einmal eine Wand gebaut, Papprolle auf Papprolle gestapelt, hinter der es sich nun vortrefflich verstecken lässt, auch wenn das Bauwerk fragil ist und alle tunlichst darauf achten, bloß nicht dagegen, gegen "unsere Festung" zu fallen. Und wer glaubt, eine Krone müsse immer aus Gold und viel Geschmeide und jede Menge Klunker bestehen, kennt Julius nicht. Der Dreijährige hat eine Variante aus Klebebandrollen und Teilen eines Schokoküssekartons gebastelt. "Das ist meine Krone", sagt der Knirps, setzt sich das Gebilde auf den Kopf und fragt: "Siehste?" Zofia (5) erklärt, wie das mit den Tücherketten so geht, zieht ein zusammengedrehtes Tülltuch durch einen knopfgroßen Plastikblumenring nach dem anderen, verknotet beide Enden - fertig. Die nun fehlende Kiste mit den Kostümen ist da fast vergessen.Anarchie herrscht nicht, auch wenn die Kinder selbst entscheiden können, was sie aus dem Material machen, welche Spiele sie spielen. "Wer eine Schere und Klebstoff haben möchte, muss sagen, wofür er das braucht", sagt Bianca Brüggemann. Unterstützung gibt es - sofern gewünscht - sowieso, das sei aber in den vergangenen Wochen kaum nötig gewesen. Etwas lauter sei es geworden, das haben sie und ihre Kollegin Anja Fockel festgestellt. Kein Wunder - die Kinder reden mehr miteinander, erklären sich gegenseitig, was sie machen, entscheiden, wer wen oder was in ihren Rollenspielen verkörpert.Regeln gelten weiterhin. Und auch die Sache mit dem Tagesschluss hat sich nicht verändert. "Eins, zwei, drei, das Spielen ist vorbei." In diesen Sprechgesang stimmen alle mit ein. Und räumen auf. Statt Duplo-Steinen landen nun eben Kronkorken, Klammern und Papprollen in den Kisten. Spielzeug halt.

Meistgelesen