Demo vor Tönnies: "Mut und Entschlossenheit bei den Beschäftigten steigen"

Herr Wiese, die Protestaktion, zu der Sie von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) am Freitag am Stammsitz des Fleischkonzerns Tönnies aufrufen, ist offenbar die erste ihrer Art. Sind die jetzt fest Angestellten, die zuvor Werkvertragsarbeiter waren, schon so mutig, nach nur vier Monaten vors Werktor zu gehen und mehr Lohn zu fordern?Tatsächlich steigen Mut und Entschlossenheit bei den Beschäftigten. Das sehen wir in der ganzen Branche. Die Menschen haben eine große Hoffnung und eine hohe Erwartung, dass unsere Arbeit zu deutlichen Verbesserungen ihrer Lage führt. Daher erfahren wir aktuell eine starke Unterstützung unsere Forderungen nach besseren tariflichen Mindestarbeitsbedingungen. Hat die NGG durch die Beratung der Arbeiter bei Tönnies nun einen besseren Zugriff auf den Konzern?Die Beratung liefert uns präzise Einblicke in die Arbeitsbedingungen. Wir sind ziemlich nah am Geschehen. Das ermöglicht uns, die Themen im Detail mit den verschieden Unternehmen zu besprechen und Probleme zu lösen. Das heißt, Sie sind als Gewerkschaft in allen Gesellschaften von Tönnies präsent?Der Tönnies-Konzern besteht aus zahlreichen Unternehmen. Mit nur wenigen haben wir Tarifverträge abgeschlossen und nicht alle verfügen über Betriebsräte, so dass wir ständig auch bei individuellen Ansprüchen der Beschäftigten tätig werden. Die Kommunikation mit der Personalabteilung in Rheda entwickelt sich mittlerweile ganz ordentlich und ohne große Auseinandersetzungen. Lesen Sie auch: Tönnies will bessere Bedingungen für Mitarbeiter schaffen Sind viele neue Mitglieder eingetreten, so dass Tönnies es mit einer erstarkten Gewerkschaft zu tun hat?Es ist wirklich erfreulich, dass die Beschäftigten uns immer stärker unterstützen und das Bewusstsein dafür wächst, dass man gemeinsame Probleme nur gemeinsam lösen kann. Gleichzeitig erleben wir ein wachsendes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen &bdquo;alten" und &bdquo;neuen" Beschäftigtengruppen. Das zeigt sich auch bei den Streiks, bei denen sich die bisherigen Stammbeschäftigten auch für ihre neuen Kolleginnen und Kollegen einsetzen. Das macht uns deutlich stärker. Warum halten Sie den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro pro Stunde für zu gering?Der gesetzliche Mindestlohn war von Anfang an deutlich zu niedrig. Damit kann man weder eine Familie ernähren geschweige denn eine auskömmliche Altersversorgung aufbauen. Selbstverständlich setzen wir uns für eine gesetzliche Verbesserung ein. Jetzt ist es aber in erster Linie das Ziel, tarifliche Untergrenzen für einfache und auch für qualifizierte Tätigkeiten in der Fleischbranche zu vereinbaren, die deutlich über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen. Was fordert die NGG statt des gesetzlichen Mindestlohns?Unsere Forderungen sehen drei Lohnuntergrenzen vor. Starten sollen diese mit 12,50 Euro für einfache Tätigkeiten, die nach eine Einarbeitungszeit mit mindestens 14 Euro entlohnt werden sollen. Für Fachtätigkeiten wollen wir 17 Euro vereinbaren. Daneben wollen wir auch weitere Mindestbedingungen wie Urlaubsdauer, Zuschläge oder Sonderzahlungen allgemeinverbindlich regeln. Sie sprechen von einem Unterschied in der Bezahlung von osteuropäischen Beschäftigten und heimischem Personal. Wie unterscheidet sich der Lohn sich bei identischen Arbeit?Die Vergütungsstruktur ist sehr unübersichtlich und hängt sehr von den konkreten Tätigkeiten ab. Einige der neuen Beschäftigten arbeiten häufig auch nach langer Beschäftigungsdauer und schwereren Tätigkeiten lediglich zum Mindestlohn von 9,50 Euro. Das ist beim heimischen Personal eher die Ausnahme. Bei den bisherigen Stammbelegschaften sind auch Sonderzahlungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld selbstverständlicher und höher. Lediglich dort, wo Tarifverträge gelten, sehen wir weniger Differenzen zwischen den Beschäftigten unterschiedlicher Herkunft. Das sehen wir zum Beispiel in der Reinigungsabteilung, in der allgemeinverbindliche Tarifverträge zwingend anzuwenden sind. Ist das Lohngefüge für deutsche Mitarbeitende nach Ansicht der NGG denn angemessen?Nein, im Vergleich zu anderen Unternehmen der Branche gibt es noch Luft nach oben. Deshalb keimt auch bei den einheimischen Beschäftigten die Hoffnung, dass unsere Tarifverhandlungen zur Anhebung des Lohnniveaus bei ihnen führt. Leider gelten im Tönnies-Konzern nur in wenigen Unternehmen Tarifverträge und auch die werden insbesondere in der zur Mühlen-Gruppe, die Teil des Tönnies-Konzerns ist, zunehmend in Frage gestellt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unsere Mitglieder bei der Firma Marten in Gütersloh als erste mit einem Warnstreik begonnen haben. In Gütersloh und auch bei Nölke in Versmold gab es seit 2017 keine Tariferhöhungen mehr, weil die Gesellschaften nicht mehr tarifgebunden sind. Lesen Sie auch: Tönnies übernimmt 6.000 Werkvertragsarbeiter: "Wir halten unser Wort" Sie fordern auch bessere Arbeitsbedingungen in der Branche. Welche sind das?Die Branche ist verglichen mit anderen Industriebereichen nicht mehr konkurrenzfähig, wenn es um das Anwerben und Halten von Beschäftigten geht. Das Kommen und Gehen ist extrem geworden. Andere Unternehmen in der Region können mit deutlich besseren Bedingungen locken. Es ist einfach unattraktiv, wenn für schwere Belastungen und ungünstige Arbeitszeiten nur wenig mehr als die gesetzlichen Mindestbedingungen geboten werden. Hier muss nicht allein in Sozialeinrichtungen investiert werden. Das Thema Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit muss weiter oben auf der Agenda stehen. Aber insbesondere müssen auch die materiellen Fragen rund um Zuschläge für ungünstige Arbeitszeiten oder Jahressonderzahlungen die tariflichen Standards andere Industriebranchen erreichen. Kooperieren Sie bei der Protestaktion mit dem Betriebsrat bei Tönnies?Der Betriebsratsvorsitzende von Tönnies-Lebensmittel ist Mitglied der bundesweiten Tarifkommission. Selbstverständlich sind wir im ständigen Dialog und besprechen unsere Strategien. Gilt das auch bei anderen Unternehmen?Auch bei Marten haben wir eine kooperative Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat, der in tariflichen Fragen eng an unsere Seite steht. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist dort besonders hoch, weil es seit langer Zeit ein gutes Miteinander gibt. Soll der Fleisch-Tarifvertrag, den Tönnies einst initiiert hat, aus Ihrer Sicht abgeschafft werden?Die Initiative für den ersten Mindestlohntarifvertrag im Jahr 2014 ging von der Gewerkschaft NGG aus und wäre ohne den Druck des gesetzlichen Mindestlohns und durch die Unterstützung aus der Politik nur schwer denkbar gewesen. Sicher wäre er auch nicht ohne das Zutun des Marktführers der Branche möglich gewesen. Deshalb sind wir selbstverständlich froh, dass Clemens Tönnies selbst Mindestlohnhöhen von 12 Euro in das Gespräch gebracht hat. Werden die Mindestlohnhöhen in dem Fleischwerk in Rheda denn auch schon gezahlt?Nein, es gibt noch zahlreiche Beschäftigte unterhalb der Marke von 12 Euro. Das Unternehmen hatte selbst durchschnittliche Lohnhöhen unterhalb gemeldet. Worum geht es dann jetzt?Heute geht es darum, die Tarifverträge deutlich besser zu machen und um weitere Themen auszuweiten. Dabei hat der Tönnies-Konzern natürlich eine herausragende Rolle. Glauben Sie, dass Tönnies dieser herausragenden Rolle gerecht wird?Tönnies könnte mehr tun, um die Mitbewerber für den Mindestlohn zu motivieren. Dazu würde es hilfreich sein, für alle Konzern-Unternehmen Tarifverträge mit uns abzuschließen. Das wäre auch unabhängig vom Mindestlohn möglich und nötig.

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