Tönnies-Werkvertragsarbeiter packen aus: "Wir waren ständig in Gefahr"

Rheda-Wiedenbrück. Sie sind sehr traurig, ungehalten und unzufrieden. Und sie fühlen sich betrogen. "Wir wurden vorsätzlich in diese Situation gebracht", sagen S. Nowak und A. Kowalski (Namen von der Redaktion geändert). Sie arbeiten seit mehreren Jahren im Fleischwerk Tönnies und sind seit 20. Juni in Quarantäne. Wie lang die noch dauert, wissen die Polen nicht. Inzwischen wurden sie fünf Mal auf eine Corona-Infizierung getestet. Kowalski und Nowak haben verschiedene Abteilungen in dem Konzern durchlaufen. Sie kennen die Zerlegung, wo die Männer bis zum Corona-Ausbruch dicht an dicht gearbeitet haben. Schwerste körperliche Arbeit wird von den Werkvertragsarbeitern verlangt - auch in der so genannten Frosta-Abteilung, dem Versand großer Fleischblöcke. Dort werden Kartons von 10 bis 30 Kilogramm Gewicht verladen - auch über Kopf und in einem sehr hohen Tempo. Nowak sagt, dass die Erhöhung der Schlachtkapazitäten deutlich zu spüren sei. "Mancher erträgt das keine zwei Stunden, kaum einer schafft es ein Jahr." "Das ist absolut kein Einzelfall" Die beiden Polen arbeiten acht Stunden pro Tag mit einer 30-minütigen Pause, "die aber unbezahlt ist". Oft leisten sie die geforderten Überstunden. Sie arbeiten auch am Samstag und "schon mal sonntags, weil es so viele Aufträge gibt", sagt Kowalski. Dafür verdienen sie etwa 1.300 Euro netto. Auf das Geld warten ihre Familien in Polen. Den nächsten Lohn bekommen die Männer am 15. Juli. Die Überstunden fehlen dann und ob es Abzüge wegen der unverschuldeten Quarantäne gibt, ist ungewiss. Für ihre Unterkunft - gekoppelt an den Arbeitsvertrag mit einem Subunternehmen - zahlen sie pro Person 150 Euro. In der Drei-Zimmer-Wohnung leben acht Männer. Einer von ihnen hatte Corona. Isoliert wurde er nicht. Er blieb in der Gemeinschaftsunterkunft. "Das ist absolut kein Einzelfall", sagt Nowak. Niemand habe sich um den Kranken gekümmert. Anrufe bei einer Behörde blieben ebenso folgenlos wie die dreimalige Alarmierung eines Krankenwagens. Zuletzt habe eine Sanitäterin gesagt, dass der Infizierte erst mitgenommen werde, wenn er Blut huste. In den Krankenhäusern gebe es angeblich keinen Platz, die Isolierhäuser sind erst jetzt bezugsfertig geworden. "Ich habe mich schon in einem Sarg auf dem Weg nach Polen gesehen" "Wir waren ständig in der Gefahr, uns anzustecken", sagt Nowak. "Ich habe mich schon in einem Sarg auf dem Weg nach Polen gesehen und mich gesorgt, wie meine Familie das Geld dafür aufbringen kann", sagt er. "Aber Gott sei Dank, habe ich das psychisch ausgehalten und bin gesund geblieben." Das vermutet Nowak zumindest nach den vielen Corona-Tests. Vom fünften haben die Männer noch kein Ergebnis. "Wenn sich keiner meldet, dann ist er negativ." Informiert wurde aber der Erkrankte, dass er genesen ist. Er darf das Haus wieder verlassen - anders als seine Kollegen. Wann die Quarantäne für sie aufgehoben wird, wissen sie nicht. So lange schlagen sie die Zeit tot. "Wie oft kann man eine Wohnung putzen, um sich zu beschäftigen? Wie viele Zigaretten kann man rauchen?". Und die Polen denken viel an zu Hause, an ihre Familien. "Ihm ist das Geschäft wichtiger als die Gesundheit der Mitarbeiter" Keiner der Werkvertragsarbeiter ziehe nach Rheda-Wiedenbrück, "weil es so angenehm ist, hier zu arbeiten." Die Menschen kämen, weil sie in ihrer Heimat mit schwierigen Situationen konfrontiert seien, "auch wenn sich die Lage in Polen verbessert hat", so Kowalski. Sie müssten Kredite abbezahlen, ihre Familien ernähren, fänden als gering Qualifizierte zu Hause aber keinen Arbeitsplatz. Es geht also ums Geld. Auch Clemens Tönnies gehe es ausschließlich darum. "Ihm ist das Geschäft wichtiger als die Gesundheit der Mitarbeiter", sagen Nowak und Kowalski. Das Gespräch dolmetscht die Diplom-Übersetzerin Margarete Fritsch. "Tönnies hat zugelassen, dass sich die Leute hier anstecken." Er hätte schon vor sechs Monaten für andere Arbeitsbedingungen im Fleischwerk sorgen müssen, meinen sie. Nach den Tests "mussten wir noch arbeiten" Niemand wisse draußen, was hinter den Mauern des Fleischkonzerns geschehe. Von mafiösen Strukturen sprechen die Männer. Da stehe Tönnies an zentraler Stelle. Seine Verbindungen in Politik und Gesellschaft seien unklar. Die Männer berichten von den Reihentestungen Ende Mai. "Die gab es nur, um die Öffentlichkeit ruhig zu stellen - und sie waren nicht konsequent." Die Männer sagen, dass sie zwar getestet wurden, weil sie gerade ihre Schicht antraten. "Aber Leute, die frei hatten oder im Urlaub waren, haben keinen Corona-Test gemacht." Die Vorarbeiter hätten sich dann lustig gemacht über die ersten positiven Fälle, sie bagatellisiert. Als die beiden Polen dann nach dem Corona-Ausbruch erneut getestet wurden, "mussten wir anschließend noch arbeiten," sagt Kowalski. Und das, ohne zu wissen, ob Kollegen infiziert waren oder nicht. "Vorher gab es unsichere Pseudomasken" Weitere Informationen hätten sie keine bekommen. Die Tönnies-interne App für Mitarbeiter "kennen wir nicht". Die Corona-Warn-App kommt für die Werkvertragsarbeiter auch nicht in Frage, weil sie kaum Deutsch sprechen. Auch im Fleischwerk selbst habe es keine Aushänge gegeben. "Da gibt es nur Zettel, welches Essen es zu welchem Preis gibt." Als der zweite Lockdown sich ankündigte, wurden die Männer von ihrer Leihfirma - "der Name ist egal, es läuft bei allen gleich" - vorgewarnt. Sie sollten schnell noch mal einkaufen. Wären sie in Quarantäne, könnten sie sich aber melden, sollten sie etwas brauchen. "Das würde dann vom Lohn abgezogen", sagt Nowak. Vor ihrer Tür fanden sie schließlich Lebensmittel, "vermutlich von Tönnies, weil sie in einer Fleischkiste waren". Desinfektionsmittel war nicht darin. Gewundert hat sie das nicht. Denn einen vernünftigen Mund-Nasen-Schutz hätten sie erst etwa eine Woche vor der Werksschließung bekommen. "Vorher gab es unsichere Pseudomasken ohne Zertifikat - es war eine Katastrophe, damit zu arbeiten." "Das wäre doch schon mal eine Geste" Ob sie wieder in das Fleischwerk zurückkehren? Kowalski hofft, dass die für nächstes Jahr angekündigten Neuerungen bei der Entlohnung und der direkten Einstellung der heutigen Werkvertragsarbeiter kommen. "Es wäre ein Zeichen des Anstandes, etwas zu ändern." Er würde weiterhin für Tönnies arbeiten. Nowak ist unentschieden. "Ich muss mich erst mal erholen und mit meiner Familie besprechen, wie es weiter geht." Jetzt hofft er, dass er am Sonntag in seine Heimat fahren kann - zur Hochzeit seiner Tochter. "Meine Tasche ist schon gepackt." Kowalski hat noch eine andere Hoffnung: auf eine Entschuldigung und eine Entschädigung für das, "was uns alles passiert ist". Er denkt an die Bezüge, die der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel für seine Beratertätigkeit für den Fleischkonzern Tönnies erhalten habe. Der frühere Bundeswirtschaftsminister soll von März bis Ende Mai 2020 ein Pauschalhonorar von 10.000 Euro im Monat sowie ein zusätzliches vierstelliges Honorar für jeden Reisetag erhalten haben. "Das wäre doch schon mal eine Geste", wünscht sich Kowalski diese Summe nicht alleine für sich, sondern verteilt auf viele Werkvertragsarbeiter.

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