"Wir haben es in der Hand, aus einem einigen Vaterland ein einiges Volk zu machen"

Harsewinkel. Einunddreißig Jahre nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 sieht Dr. Angelika Wensing, die in Mecklenburg geboren und auf der Ostseeinsel Rügen in der DDR aufgewachsen ist, heute mehr Verbindendes als Trennendes zwischen den einstigen beiden Deutschlands. Wie viel die Zahnärztin, die in den frühen 90er Jahren den Neuanfang im &bdquo;Wilden Westen" wagte, noch an ostdeutscher Prägung in sich trägt, verrät die Harsewinkeler CDU-Fraktionsvorsitzende im Interview. Angelika Wensing, fangen wir mit dem Klassiker an: Wo waren Sie am 9. November 1989? ANGELIKA WENSING: Im Bett in meinem Studentinnenwohnheim in der Rostocker Südstadt. Ich habe die historische Nacht verschlafen. (lacht). Und sind am nächsten Morgen in einem anderen Land aufgewacht? Selbst das hat ein bisschen gedauert. Ein paar Kommilitoninnen diskutierten im Waschraum aufgeregt darüber, ob sie nun nach Hamburg oder Lübeck fahren sollten und dass sie vorher irgendeinen Stempel haben müssten. Worüber fantasieren die denn? &bdquo;Die Grenzen sind auf", sagten sie mir. Das hab ich immer noch nicht richtig geglaubt. Erst bei der Fahrt in die Stadt sah ich überall tatsächlich Schlangen vor den Polizeirevieren. Freiwillig bei der Polizei anstehen? In der DDR? Da sickerte es bei mir tröpfchenweise durch. Aber die Zeichen waren doch vorher erkennbar? Ich habe in Rostock ein bisschen in einer Blase gelebt. Die Proteste spielten sich im Süden, in Leipzig, ab. Da war ich ein bisschen auf der Insel der Ahnungslosen, zumal auf Rügen frei von westlichen Medien und in Rostock im Studentenwohnheim ohne Fernsehgerät. Im DDR-Fernsehen oder den Zeitungen war von gesellschaftlichen Protesten natürlich nichts zu sehen. Als Kommilitonen über die Ereignisse in China im Juni ’89 oder die Proteste an der Nikolaikirche sprachen, habe ich das noch nicht richtig geglaubt. Ich war noch zu jung und unbedarft. Von einem Tag auf den anderen war alles anders? Die Wende kam bei mir mitten im Studium. Ich habe 1992 Staatsexamen gemacht. Dann habe ich meine erste Arbeitsstelle auf Rügen gesucht, also in meiner Heimat. Ich hatte 1990 meine erste Tochter bekommen. Und dort gab es ein gut sortiertes System der Kinderbetreuung. Die Stellensuche war kein Problem? Ich bin auf der Insel von Zahnarztpraxis zu Zahnarztpraxis gezogen. Die Kollegen hatten sich gerade erst selbstständig gemacht. Da war es schwierig. Also musste ich in den &bdquo;Wilden Westen". Da bekam ich sofort eine Stelle. Wie funktionierte Ihre Integration? Mein Chef bestand darauf, dass ich mein Auto zwei Straßen weiter abstellte. Ich hatte ein Rostocker Kennzeichen – HRO. Es sollte niemand von den Patienten mitbekommen, dass ich aus dem Osten kam. Er sagte: &bdquo;Ich weiß ja, was Du kannst. Aber ob das in der Kleinstadt so akzeptiert würde..?" Wie kam das bei Ihnen an? Erstmal ging ich mit meiner Herkunft vorsichtiger um. Wenn es darum ging, woher ich komme, antwortete ich lange mit: Von der Küste. Wenn ich wirklich mal sagte, dass ich von Rügen bin, hieß es oft: Das hört man ja gar nicht. Als wenn alle Ossis Sächsisch sprechen würden! Da wurden echt alle Klischees bedient. Mussten Sie auch beruflich noch mal extra Kompetenz beweisen? Im Westen wurde ja gerne mal vergessen, wie gut die Ausbildung im Osten war. Nein. Wir durften in der DDR schon im Studium sehr viele Patienten behandeln. Hier hatte ein Assistent frisch von der Uniklinik deutlich weniger Erfahrung am &bdquo;lebenden Objekt". Wir haben drüben als Studenten schon Weisheitszähne entfernt, Wurzelbehandlungen gemacht, Zähne gezogen. Füllungen konnten wir fast täglich legen. Der praktische Teil war extrem intensiv. Dafür konnte ich mit der modernen Technik hier erst nicht umgehen. Die Ausstattung drüben war an der Uni eher steinzeitlich. Aber was ich dort quasi mit Faustkeil gelernt hatte, gelang dann auch schnell mit den modernen Werkzeugen. Vom Prinzip blieb das dasselbe. Fundierte Ausbildung gab es in der DDR in allen Bereichen. Wurde dies im Westen mit einer gewissen Überheblichkeit abgetan? Ob das überheblich war, mag ich nicht beurteilen. Mein Jahrgang machte an der Bruchstelle 1992 eine ost- und bundesdeutsche Staatsexamensprüfung. In der DDR war das Examen breiter. Wir mussten uns zum Beispiel auch in Pädiatrie oder Dermatologie ausgiebig prüfen lassen. Das gab es danach so nicht mehr. Wie erlebten Sie die DDR? Ich habe auf Rügen eine glückliche Kindheit, abgeschirmt von allem, erlebt. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir was gefehlt hat. Dinge, die man nicht kennt, vermisst man wohl nicht. Wenn es mal Bananen oder Apfelsinen gab, um auch mal dieses Klischee zu bedienen, dann freute ich mich und stand brav in der Schlange. Für meine erste Platte von ACDC übrigens auch. Meine Eltern sind mit uns in jeden Winkel der für uns erreichbaren Welt gefahren. Sie sind viel mit uns unterwegs gewesen. Wir waren oft in Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei zum Campingurlaub. Die damalige Sowjetunion und Rumänen habe ich auch besucht. Von der Party auf Mallorca ahnte ich nichts (lacht). Die DDR war einfach mein ganz normales Leben. Haben Sie was vom &bdquo;Unrechtsstaat mitbekommen? Das Thema Unrechtsstaat war für mich eine sehr späte aber dafür um so prägendere Erkenntnis. Ich selbst kannte niemanden, dem große Ungerechtigkeit widerfahren ist. Oder habe es nicht mitbekommen. Meine Eltern haben uns sicherlich von manchem abgeschirmt. Als nach der Wende die Stasi-Machenschaften ans Tageslicht kamen, saß ich dann erstmal heulend in der Ecke und dachte, das kann alles nicht wahr sein. Die können mich doch nicht so geblendet haben und ich habe es nicht mitgekriegt? Umso stärker ist heute meine Ablehnung jeder Art von kommunistischer Idee. Der Westen schaute immer mit einer gewissen Arroganz auf die Ost-Biografien. Wäre da nicht angesichts der völlig anderen Lebensverhältnisse etwas mehr Demut angesagt? Darüber habe ich mit Ralph Brinkhaus diskutiert. Warum wählt der Osten heute, wie er wählt? Dieses nur Draufgucken, aber nicht Hingucken ist ein Problem. Ich kann verstehen, dass die Menschen, die dort noch immer leben, sich unverstanden, nicht wahrgenommen fühlen. Die haben auch ihren Teil zum Aufbau beigetragen. In den 90ern, als die Unterschiede noch stärker betont wurden, dachte ich des öfteren: Wie hättet Ihr im Westen reagiert, wenn sich bei Euch mitten im Leben die Gesellschaftsform, das Arbeitsumfeld, einfach komplett alles geändert hätte? Spricht da auch eigenes Erleben aus Ihnen? Mein Vater war Maurermeister im staatlichen Wohnungsbau, der sehr schnell abgewickelt wurde. Da war er mit Mitte 40 arbeitslos und ohne jegliche Aussicht auf einen Job in der Nähe. Das war für unsere Familie eine sehr schlimme, unerwartete neue Erfahrung. Er hat sich dann selbstständig gemacht. Aber ein guter Handwerker ist nicht unbedingt ein guter Geschäftsmann, schon gar nicht, wenn man unvorbereitet in die Privatwirtschaft hineinstolpert. Da wurde Unsicherheit zum ständigen Begleiter. Viele, die das so oder ähnlich erlebten, hadern mit ihrem Schicksal. Das kann ich nachvollziehen. So entsteht dann auch Protest. Wie kann es sein, dass sich in 30 Jahren nicht eine neue politische Elite in Spitzenämtern bildet, die dort an den Hebeln sitzt? Das braucht noch mal 30 Jahre. Politisches Interesse und auch politische Prägung wächst zunächst im Elternhaus. Es gab aber faktisch nur die SED. Wo sollte nach der Wende plötzlich eine andere politische Heimat herkommen? Die Menschen dort mussten diese erst finden, um politisches Interesse an die Kinder weiter geben zu können. Nach 1989 entstand ein Vakuum, in das leider die falschen Leute reingestoßen sind und sich die Unzufriedenheit zu nutze gemacht haben. Damit meine ich heute die Neonazis. Womit wir bei der AfD wären... Ich habe gar nicht verstanden, was Reinhard Hemkemeyer (SPD-Fraktionssprecher, die Red.) von mir wollte, als er im Wahlkampf so hartnäckig nachbohrte, wie sich die CDU in dieser Frage positioniert. Ich habe mit Sicherheit mehr Antifa inhaliert als er. Welcher Hirni arbeitet denn mit denen von der AfD zusammen? Natürlich tun wir das nicht. Da haben wir uns klar positioniert. Ich persönlich habe eine streng sozialistische Schulbildung absolviert. Die Demokratie und die soziale Marktwirtschaft empfinde ich trotz jahrelangem Staatsbürgerkundeunterricht als die bessere Idee. Aber alles, was ein braunes Jäckchen anhat, ist und bleibt für mich tabu. Wann sind Sie aktiv politisch geworden? Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um abzuklären, wer hier eigentlich wofür steht und wie das Leben hier so funktioniert. Irgendwann hatte ich meinen Weg gefunden und die für mich neue Welt als etwas Bereicherndes und Positives empfunden. Ich bin dann schnell in diesem neuen Leben mit seinen ganzen Facetten angekommen. Helmut Kohl war ich für die vielen Veränderungen in meinem Leben echt dankbar. Zumal alles über die DDR hoch kochte, das mir zeigte, auf was ich mich ohne Wiedervereinigung hätte einlassen müssen. Dann war es meine Nachbarin Waltraut Vögeler, die mich 1998 zur CDU gebracht hat. Wie viel DDR steckt noch in Ihnen? Ich nehme im Leben nichts mehr als selbstverständlich. Die Erfahrung eines solchen Umbruchs prägt. Ja und sonst? Ich bin in einem Arbeiterhaushalt groß geworden. In mir steckt das Selbermachen, das hatten wir in der DDR alle, eben weil es den Rundumservice wie hier nicht gab. Ich habe gelernt, zu tapezieren, Lampen abzuklemmen, Bilder und Regale anzubringen, wo es sein muss zu improvisieren und alles irgendwie erstmal zu reparieren. Bei meiner Schwalbe konnte ich damals noch den Vergaser auseinanderschrauben und die Zündkerzen reinigen. Das bekäme ich heute aber definitiv nicht mehr hin. Und insgesamt habe ich den Service von Handwerkern wirklich schätzen gelernt und verlasse mich lieber auf ihr Können. Was hier möglicherweise die meisten Menschen gar nicht nachvollziehen können? Da hat sich ja schon viel geändert. Anfangs stieß ich zum Beispiel mit meiner Berufstätigkeit als Mutter oft auf großes Unverständnis. Heute ein relativ normaler Vorgang. Politisch wurde ich mal ausgebuht für die Idee, die Sporthalle für das Gymnasium doch am Moddenbachstadion zu bauen, wo gerade Umkleiden fehlten. Ich wollte Synergien nutzen und damit Geld sparen. Das Argument der Gegenseite war der &bdquo;lange" Weg von der Schule dorthin. Gegen diese Sicht der Dinge stand für mich meine eigene Schulzeit. Dort gab es damals völlig selbstverständlich die Schulspeisungen. Ging ja im sozialistischen Alltag auch nicht anders, weil beide Eltern arbeiteten. Alleine der Weg zur Mensa war 20 Minuten hin und wieder 20 Minuten zurück. Da ist auch keiner dran gestorben. Ich habe aber gelernt, dies nicht mehr zu vergleichen. Wo stehen wir "Wossis" in Ihren Augen heute? Ich glaube, dass wir das Zusammenleben inzwischen ziemlich gut können. Es spielt auch keine Rolle mehr, woher du kommst. Es gibt Dinge in der Geschichte, die zwei Generationen brauchen, bis sie überstanden sind. Die Generation, die im Zuge des Umbruchs Ungerechtigkeit erlebt habt, gibt diese Erfahrung noch zum Teil an ihre Kinder weiter. Aber das wächst sich aus. Da sehe ich im Faktor Zeit eine große Chance. Wir haben es auf beiden Seiten der Elbe in der Hand, aus dem einigen Vaterland auch ein einiges Volk zu machen.

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