Marion S. aus Kreis Gütersloh vermisst: Profiler erklärt, warum Menschen verschwinden

Halle/Steinhagen. Gewaltverbrechen, Unfall, Suizid oder freiwilliges Verschwinden – nichts kann die Polizei in dem mysteriösen Fall der seit dem 5. Juli spurlos verschwundenen Marion S. (68) bislang ausschließen. Die Bielefelder Sonderkommission &bdquo;Erfurt" ermittelt ohne Pausen weiter, bislang ohne konkrete Ergebnisse für die Öffentlichkeit. Wie kann es sein, dass Menschen plötzlich verschwinden? Die Redaktion hat Deutschlands bekanntesten Profiler, Axel Petermann (70), dazu befragt, der für diese Zeitung auch als Autor arbeitet. Petermann hat als Leiter der Mordkommission in Bremen und stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen mehr als 1000 Fälle bearbeitet, in denen Menschen eines unnatürlichen Todes starben. Im Jahr 2000 hat er mit dem Aufbau der Dienststelle &bdquo;Operative Fallanalyse", begonnen, deren Leiter er viele Jahre war. Seine Bücher wurden Bestseller. Jeden Tag werden in Deutschland bis zu 300 Vermisstenfälle erfasst. Ist das viel?Axel Petermann: Wenn man die Zahl auf eine Gesamtbevölkerung von 83 Millionen Menschen bezieht, dann scheint wenig zu sein. Aber wenn ich mir die Einzelschicksale dahinter anschaue, finde ich die Zahl sehr hoch. Pro Stunde verschwinden ungefähr zehn Menschen. Weil es ihnen vielleicht nicht gut geht, weil sie ein neues Leben beginnen wollen, weil sie eine Auszeit brauchen oder weil ein Unglück passiert ist. Ich habe bei dieser Statistik gemischte Gefühle. Die meisten Vermissten kommen innerhalb einer Woche zurück oder werden gefunden. Stimmt das?Tatsächlich bleiben nur sehr wenige Menschen für immer vermisst. Und man sollte eine Sache bedenken: Viele verschwinden freiwillig. In Deutschland darf man den Ort frei wählen, an dem man leben möchte. Wer sich für eine gewisse Zeit verabschieden will, muss seine Familie und seine Freunde nicht darüber informieren. Das mag zwar moralisch nicht die feine Art sein. Aber es verstößt gegen kein Gesetz. Kann man in Deutschland überhaupt so einfach abtauchen, wo man doch bei vielen Behörden gemeldet sein muss?Das ist wirklich schwierig. Aber es gibt immer wieder Menschen, denen das gelingt. Man denke nur an den Fall der Petra. P. aus Braunschweig. Ist das die Geschichte von der 31-jährigen Informatikstudentin, die 31 Jahre lang verschwunden war?Richtig. Sie ist 1984 kurz vor einer Geburtstagsfeier spurlos verschwunden und wurde fünf Jahre später für tot erklärt. 2015 hat man sie durch einen Zufall wiedergefunden. Sie lebte in Düsseldorf unter einem falschen Namen. Vergessen werden meist die Angehörigen. Mit Sicherheit leiden sie ...Die Angehörigen müssen viel Leid miterleben. Familien können an Mord- und Vermisstenfällen zerbrechen. Auch deswegen bin ich Schirmherr im ANUAS e. V. Das ist eine Hilfsorganisation, die sich für Angehörige von Tötungsdelikten, Suiziden und Vermisstenfällen einsetzt. Die Polizei leitet erst dann eine Vermisstenfahndung ein, wenn eine Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann. Ist dieses Kriterium zu hart?Wenn Kinder unter 14 Jahren verschwinden, wird die Polizei umgehend aktiv. Man geht automatisch von einer Gefahr aus. Bei Erwachsenen ist das anders. Bevor die Polizei eine solche Vermisstenmeldung aufnimmt, muss sie feststellen, ob man tatsächlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgehen muss. Dafür müssen sich die Beamten ausführlich mit der Persönlichkeit der vermissten Person auseinandersetzen. Im Fall der Steinhagenerin ist das mit Sicherheit so gewesen. Wie geht die Polizei vor?Man versucht herauszufinden, was der Grund für das Verschwinden sein könnte. Dafür befragt man das Umfeld der vermissten Person: die Eltern und die Partner, die Freunde und die Arbeitskollegen. Denn oft gibt es nicht so erfreuliche Gründe für ein Verschwinden. Nun ist die 68-jährige Marion S. wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Ehemann, mit dem sie in Scheidung lebt, ist vernommen worden; auch wurden sein Anwesen und sein Pkw von der Polizei durchsucht. Offiziell wird er als Beschuldigter geführt. Gibt es dafür spezielle Gründe, den Ex-Partner zu verdächtigen?Natürlich sollte man nicht pauschalisieren, denn die Umstände eines jeden plötzlichen Verschwindens einer Person können mannigfaltig sein. Es ist stets eine Einzelfallprüfung durchzuführen und zu diesem konkreten Fall hier kann ich nichts sagen. Allerdings zeigt die kriminalistische Erfahrung, dass allein der Umstand, dass eine Frau mit einem Mann eine Beziehung eingeht, für sie das größte Risiko in ihrem Leben darstellt, zu irgendeinem Zeitpunkt Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Die Wissenschaft hat dafür einen Namen, nämlich &bdquo;Intimizid". Also die Tötung des früheren oder aktuellen Intimpartners. Kommt zu diesem generellen Risiko noch ein spezielles hinzu, zum Beispiel die von der Frau ausgesprochene Absicht, sich von ihrem Partner zu trennen, so steigt für sie das Risiko einer Tötung deutlich an. Die Gründe haben nichts mit einer romantisierten Vorstellung eines Liebesdramas zu tun, sondern basieren eher auf Enttäuschung sowie Macht- und Kontrollverlust des Mannes. Zudem möchte er derjenige sein, der entscheidet, wann eine Beziehung endet und wann nicht. Häufig erfolgt bei latenter Tatbereitschaft die Tötung der Frau, wenn sie sich in einer vom Ex-Partner erhofften Aussprache nicht einsichtig zeigt, also die Versprechungen des Mannes, die Beziehung werde wie früher werden, nicht akzeptiert und weiterhin auf eine Trennung beharrt. Oder die angedrohte Scheidung oder der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung werden weiterhin konsequent verfolgt. Den Männern wird so endgültig bewusst, dass sie in ihrem Vorhaben gescheitert sind, die Partnerin umzustimmen und zu halten. Häufig kommen dazu noch andere Faktoren, wie Arbeitsplatzverlust, Süchte oder die Erkenntnis, im Leben gescheitert zu sein, hinzu. So irrational dies auch klingt, doch mit der Tötung wollen die Männer die Frau für sich behalten und töten sie eher, als dass sie ihr ein anderes, ein neues Leben – möglicherweise auch mit einem neuen Partner – ermöglichen. Sind dazu viele Männer fähig?Man könnte meinen, dass zu einer solchen Reaktion nur die wenigsten Männer fähig wären, doch diese Annahme ist weit gefehlt und unabhängig vom Alter, des sozialen Status, der Ausbildung oder ihrer finanziellen Situation. Ob tatsächlich der Ex-Ehemann von Marion S. für ihr Verschwinden verantwortlich ist, müssen die weiteren kriminalpolizeilichen Ermittlungen und die damit einhergehende Einzelfallprüfung zeigen.

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