Gütersloh. Wir Medien sind zweifellos geübt im Loslassen der Ereignisse und Menschen. Geschieht etwas Dramatisches, Unerwartetes, oft Schlechtes, viel seltener Gutes – dann sind wir da und stellen es mit dem Lichtkegel der Berichterstattung in die Öffentlichkeit. Geschwindigkeit wird im digitalen Zeitalter zunehmend als Qualität begriffen.
Dabei rücken schnelle Wahrheiten ins Licht der Reporter und dadurch in das Bewusstsein der Allgemeinheit. Und dort bleiben diese ersten Wahrheiten, unauslöschbar eingewoben auch in das Gedächtnis des Internets. Der Medientross aber ist längst weitergezogen, hat losgelassen.
Zurück bleibt eine absolute Wahrheit, die selten einer kennt. Zurück bleiben erste Wahrheiten, derer sich die Öffentlichkeit fortan als absolute entsinnen wird. Zurück bleiben die Ermittlungen der Behörden im Hintergrund – die eingestellten und wieder aufgenommenen. Zurück bleiben die beteiligten Menschen – die toten und die lebenden. Eltern, die unter dem Verlust eines Sohnes leiden, aber auch unter der ersten Wahrheit, da sie allgemein akzeptiert worden ist.
Die Eltern kämpfen still für ein neues Licht auf die Ereignisse, um mit puzzleartigen Ermittlungsdetails, Wahrscheinlichkeiten, Zusammenhängen, Abwägungen und Schlussfolgerungen Antworten zu finden auf Fragen: Warum ist unser Kind gestorben? War sein Tod ein tragisches Unglück, also unvermeidbar?
Was genau passierte
Tim Eichstädt, 16-jähriger Schüler aus Gütersloh, starb am 5. September 2015 an den Folgen eines Speerwurf-Unfalls, der sich während des Sportunterrichts an der Janusz-Korczak-Schule ereignet hatte. Die Umstände seien tragisch gewesen. Der Jugendliche sei beim Anlauf für einen Wurf ausgerutscht und in den Speer gefallen. Bei einer Internet-Recherche findet man an anderer Stelle auch die Beschreibung eines ausrutschenden oder strauchelnden Tim Eichstädt beim Versuch, seinen Speer zurückzuholen.
Erste, schnelle Wahrheiten. Mehr als zwei Jahre später sitzen Tims Eltern, Gaby und Oliver Eichstädt, nebeneinander an einem schweren Esstisch im Wohnzimmer ihres Hauses. Die 45-jährige Gütersloherin greift in einen mit zusammengehefteten Schriftstücken gefüllten Karton.
Es sind die Ermittlungsunterlagen zum Unfall ihres Sohnes – darunter detaillierte Zeugenaussagen und zwei Schreiben, in denen die Bielefelder Staatsanwaltschaft jeweils die Einstellung der Ermittlungen begründet.Während Gaby Eichstädt nach einer wichtigen Zeugenaussage sucht, schüttelt ihr Mann stumm den Kopf und sagt dann: „Nein. Das, was geschrieben wurde, ist nicht die Wahrheit." Tim sei nicht einfach so ausgerutscht während eines Speerwurfes.
Der Berufsfeuerwehrmann berichtet vom aktuellen Stand der Ermittlungen
Der Berufsfeuerwehrmann berichtet vom aktuellen Stand der Ermittlungen, die seine Frau durch Hinweise und Beschwerden beharrlich angeschoben hat. Dass die zweite Beschwerde wenige Tage später von der Generalstaatsanwältin in Hamm abgewiesen werden wird, weiß das Ehepaar zu diesem Zeitpunkt noch nicht.„Wie es aussieht, hat Tim beim Zurückholen seinen Speer zweimal vor sich in den Boden geworfen und dann einen Sprungwurf gemacht. Dabei ist er mit seinem Gesicht in die hintere Spitze des Speers gefallen und hat sich dabei die schweren Hirnverletzungen zugezogen", erzählt Oliver Eichstädt.
Der Sportlehrer habe sich während des Speerwerfens etwa 100 Meter entfernt bei den Kugelstoßern auf dem benachbarten, durch Zaun und Bäume abgetrennten Sportplatz aufgehalten. Der Rasen, auf dem das Speerwerfen geübt wurde, sei nass und rutschig gewesen. Tim habe Hallenschuhe mit flachem Profil getragen. Erste Wahrheiten, sie gelten nicht mehr. Laut früherer Ermittlungen war der Sportlehrer 45 Meter vom Unfallort entfernt.
Erst nach dem Einspruch Gaby Eichstädts wird der Abstand auf 95 Meter korrigiert. Am 3. März 2016 schreibt sie der Staatsanwaltschaft Bielefeld: „Der Lehrer hat sich 95 Meter entfernt von den Schülern aufgehalten", und zitiert aus einem Amtsblatt des NRW-Ministeriums für Schule und Weiterbildung: Gefährliche Wurfdisziplinen dürften nur unter unmittelbarer Aufsicht der Lehrkraft erfolgen. Außerdem müsse vor jeder Stunde der Ort, an dem der Sport stattfindet, sowie die Schüler auf funktionsfähige und passende Sportkleidung überprüft werden.
„Alles ändert sich, wenn ein Kind stirbt"
Die Mitarbeiterin der Stadt Gütersloh ist eingetaucht in die Suche nach den wahren Ereignissen jenes Morgens auf der Rasensportfläche Am Alten Hellweg. Dutzende von gelben Postits, die aus dem Rand jeden Papierstapels ragen, wirken wie eine zerfledderte Flagge ihrer akribischen Suche.
Minutenlang liest Gaby Eichstädt aus den Akten vor. Sie wolle niemanden angreifen, sondern ausschließlich bei den Fakten bleiben, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie könne das Geschehene einfach nur nicht loslassen.Gaby Eichstädt liest leise Zeugenaussagen und hält nur inne, wenn der Moment der tödlichen Verletzung ihres Sohnes erwähnt wird.
Sie liest ihre erfolgreiche erste Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen. Und die Gründe der Behörde, die Ermittlungen, bei denen der Sportlehrer als Beschuldigter die Aussage rechtmäßig verweigerte, abermals einzustellen: „Nach einem Erlass des Schulministeriums NRW (...) darf die Disziplin des Speerwerfens im Sportunterricht zwar nur unter unmittelbarer Aufsicht der Lehrkraft stattfinden.
Es gibt jedoch keine Handlungsempfehlung der Janusz-Korczak-Schule, wie genau eine solche Aufsicht zu erfolgen hat. (...) Der Sprung (von Tim Eichstädt, Anm. d. Red.) war für keine andere Person vorhersehbar." Und sie trägt die abschließende Einschätzung aus dem ersten Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft vor: „Der tödliche Unfall Ihres Sohnes stellt sich für den Beschuldigten daher als unabwendbares Ereignis dar."