Gütersloh

Vorbildliche Behinderten-Pflege: Fernsehteam besucht Gütersloher Verein "Zirkel"

Zuneigung statt Zwangsjacke

Vertrauen: In der Einrichtung des Zirkels an der Feldstraße können sich Horst Weiland und sein Sohn Matthias in dessen Zimmer zurückziehen und unter vier Augen miteinander reden. | © Michael Schuh

02.08.2016 | 02.08.2016, 14:57
Dreharbeiten: Ein BR-Team filmte in Gütersloh. Die Ausstrahlung des Beitrags ist für den 12. Oktober vorgesehen. - © Michael Schuh
Dreharbeiten: Ein BR-Team filmte in Gütersloh. Die Ausstrahlung des Beitrags ist für den 12. Oktober vorgesehen. | © Michael Schuh

Gütersloh. Vor allem in Süddeutschland sorgte die Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks für Betroffenheit: Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung sollen in bayerischen Heimen in speziellen Räumen eingesperrt sowie nachts im Bett und tagsüber an Stühlen fixiert worden sein. Ein vierköpfiges BR-Team drehte im Rahmen der weiteren Recherche am Montag auch in einer Einrichtung des Gütersloher Vereins "Zirkel".

Das Fernsehteam war den weiten Weg nach Ostwestfalen aber nicht gekommen, um seiner Dokumentation einen weiteren Fall freiheitsbeschränkender Maßnahmen hinzuzufügen - ganz im Gegenteil. Die Zirkel-Einrichtungen sollen vielmehr zeigen, dass Einfühlungsvermögen und Akzeptanz mehr bewirken können als Medikamente und Strafen.

Matthias Weiland sitzt auf der Kante seines Bettes im Haus an der Gütersloher Feldstraße, dreht einen Legostein in den Händen und spricht mit sich selbst. Der heute 45-Jährige musste sich als Säugling einer vermeintlichen Routine-Operation unterziehen, bei der es zu einschneidenden Komplikationen kam. Seither ist Matthias Weiland geistig schwer behindert und kann nicht ohne Betreuung leben.

Nachdem er die Kindheit mit Mutter, Vater und Schwester verbracht hatte, meldeten ihn seine Eltern in einer Einrichtung ganz in der Nähe ihres Wohnortes Würzburg an; im Glauben, dort ginge es ihrem Sohn gut. "Doch im Nachhinein war es schrecklich", erinnert sich seine Mutter Karin Weiland am Rande der gestrigen Filmaufnahmen.

Damals, in den 80er-Jahren, sei man beim Umgang mit geistig behinderten Menschen noch absolut medikamentengläubig gewesen: "Es wurde alles verabreicht." Und habe ein Medikament nicht die erhoffte Wirkung erzielt, sei eben noch ein weiteres hinzugekommen. Die 75-Jährige weiß aber sehr wohl, dass eine solche Behandlung seinerzeit als normal angesehen wurde: "Das war der Zeitgeist."

Doch bei der übermäßigen Medikation sei es nicht geblieben. So habe es eine ganze Reihe an Strafen für Kinder und Jugendliche gegeben, die dem Personal Probleme bereiteten. Um zur Ruhe habe man die jungen behinderten Menschen fixiert oder in sogenannte Time-Out-Räume gesperrt, wo sie in der Dunkelheit auf sich allein gestellt waren. Über Kameras, fährt Karin Weiland fort, hätten andere Kinder sie in diesen Räumen sogar beobachten können. "Matthias wurde zwar nie fixiert, aber er hat es bei anderen mitangesehen", sagt die Mutter. "Ihm hat man eine Zwangsjacke angezogen. Es war schrecklich."

Die Eltern engagierten sich, kämpften für eine Verbesserung des Systems; sicherlich im Glauben dieses sei überall gleich. "Denn keiner hat sich getraut zu sagen: Eure Betreuungsmethoden sind falsch!", erinnert sich Matthias' Vater Horst Weiland.

Bis sie beim Vortrag eines Professors vom Gütersloher Modell erfuhren, Kontakt nach Ostwestfalen knüpften und vor 14 Jahren ihren Sohn beim Zirkel anmeldeten. Seitdem lebt Matthias Weiland hier in einer betreuten Wohngruppe. Anstatt weggeschlossen und verwahrt zu werden, ermöglicht man ihm hier ein Leben unter normalen Bedingungen. Ohne Strafen, ohne Zwangsmedikation; dafür mit einem eigenen Zimmer, in das er sich zurückziehen kann.

"Seither geht es ihm unglaublich viel besser", sagt Karin Weiland. Dass sie früher glaubte, ihr Sohn könne aufgrund der vielen Medikamente irgendwann nicht mehr laufen, ist angesichts seiner heutigen Aktivität kaum nachvollziehbar. Im sprachlichen Bereich habe es ebenso enorme Verbesserungen gegeben wie im emotionalen: "Matthias kann wieder weinen."

Aber was machen die Verantwortlichen beim Gütersloher Zirkel anders als vermutlich nicht nur bayerische Heime? "Schon der erste Eindruck ist sehr wichtig", weiß Zirkel-Geschäftsführer Wolfgang Breitsprecher. "Ein behinderter Mensch merkt sofort, ob ihm sein Gegenüber freundlich oder nicht freundlich gesonnen ist. Man muss sich auf eine Beziehung mit ihm einlassen."

Und deshalb spiele das Personal eine große Rolle; allein an der Feldstraße betreuen neun fest angestellte Mitarbeiter an zwei Standorten des Zirkels zehn Menschen mit Behinderung. "Qualifikation für diese Aufgabe kann man nicht einkaufen", ist sich Breitsprecher sicher, dass Zeugnisnoten nur eine untergeordnete Rolle spielen. "Wichtig sind Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft dazuzulernen. Das braucht man auf jeden Fall."

Das bedeutet: Die Mitarbeiter lassen sich auf die Behinderten ein, überlegen, wie sie ihnen aus einem falschen Verhalten heraushelfen können und ermöglichen ihnen eine Teilhabe am Leben. Für Matthias Weiland bedeutet das unter anderem, dass er sich beim gemeinsamen Einkauf auch selbst Produkte auswählen kann. In anderen Einrichtungen wohl unmöglich - schon weil es kein gemeinsames Einkaufen gibt.

Das Ehepaar Weiland ist auf jeden Fall sichtbar glücklich, dass es seinen Sohn seit nunmehr 14 Jahren in guten Händen weiß. Alle drei Wochen kommen Weilands aus Bayern nach Gütersloh, um mit Matthias ein Wochenende zu verbringen. Ein weiter Weg. "Aber den nehmen wir für unseren Sohn sehr gern in Kauf", sagt der Vater.

Information

Fördern und integrieren

  • Der gemeinnützige Zirkel e.V. setzt sich seit 1988 für die Förderung und Integration von Menschen mit geistigen und seelischen Behinderungen im Kreis Gütersloh ein.
  • 95 Menschen werden von den Mitarbeitern stationär, weitere 150 ambulant betreut.