
Klingelt das Krisentelefon rund um die Weihnachtstage häufiger?
RENATE BERKENKAMP: Wir haben in letzter Zeit wirklich sehr viele Anrufe. Die Zahl der Anrufer hat sich total gesteigert. Ich hatte neulich an einem Abend allein zehn Telefonate. Auch nachts registrieren wir wieder mehr Anrufer. Sonst gab es auch schon mal eine Nacht, ohne dass das Telefon geklingelt hat. Das gibt es aktuell fast gar nicht.
CHRISTINA GERDENITS: Die Nächte sind derzeit wirklich lebhafter. Man spürt eine deutlich höhere Aufregung und Anspannung bei vielen Menschen, die sich bei uns melden. Die Sorgen werden größer. Manchmal klingelt das Telefon schon kurz vor Dienstbeginn durchgehend.
In welchen Situationen rufen Menschen bei Ihnen an?
GERDENITS: Das ist ganz unterschiedlich. Manche melden sich mit akuten familiären Problemen mit den eigenen Kindern oder dem Partner, die sie überfordern. Es rufen aber auch psychisch erkrankte Menschen an, die vor allem nachts Panikattacken und Schlafprobleme haben.
Wie läuft eine klassische Schicht ab?
STEPHANIE AISTERMANN: Wir sind generell immer zu zweit im Dienst. Das ist uns ganz wichtig. So kann man sich in gegenseitig unterstützen. Wenn Anrufe eingehen, machen wir den Lautsprecher an, sodass beide den Anruf verfolgen können. Einer von beiden leitet das Gespräch aber federführend.
GERDENITS: Manchmal schaut der andere auch schon parallel in der Dokumentation, ob bereits Informationen über den Anrufer vorliegen, die hilfreich sein können. Oder der andere sucht Kontaktdaten zu weiteren Hilfsangeboten raus, die passend sein könnten.
Fahren Sie im äußersten Notfall auch zu den Menschen nach Hause?
AISTERMANN: Wenn es notwendig ist und die Krise so akut ist, dass jemand vor Ort Hilfe benötigt, dann fahren wir natürlich auch raus. Egal zu welcher Uhrzeit. Vor allem in Situationen, in denen wir aus der Ferne die Lage nur schwer einschätzen können.
GERDENITS: Solche Fälle hatten wir tatsächlich auch schon häufiger. Aber nur innerhalb des Kreisgebiets. Dabei gilt aber auch: wir fahren immer nur zu zweit. Man weiß ja nie, was dann vor Ort wirklich los ist und was einen erwartet.
Müssen Sie manchmal auch die Polizei einschalten?
BERKENKAMP: Ja! Wenn wir am Telefon das Gefühl haben, dass viele Aggressionen im Spiel ist, dann informieren wir schon vor dem Hausbesuch die Polizei und sprechen mit den Beamten das weitere Vorgehen ab. In solchen Fällen fahren wir dann auch nur mit Polizeischutz zu Klienten. Ganz oft handelt es sich dabei um psychische Ausnahmesituationen.
GERDENITS: Manchmal braucht man aber auch gar nicht die Polizei, sondern eher einen Rettungswagen, weil es gegebenenfalls auf eine Einweisung hinausläuft.
An welchen Anrufer können Sie sich noch besonders erinnern?
GERDENITS: Mir kommt direkt eine Dame in den Kopf, die zwischendurch immer mal wieder anruft. Das sind tatsächlich total liebevolle Telefonate, weil sie ein offenes Ohr braucht.
BERKENKAMP: Einsamkeit ist bei uns auch ein großes Thema. Oft erzählen uns Menschen einfach nur, was sie am Tag erlebt haben oder mit welchen Problemen sie sich auf der Arbeit rumplagen.
GERDENITS: Genau. Und diese Dame hat kein stabiles soziales Umfeld und entsprechend eben sonst niemanden, der ihr zuhört und mit dem sie ihre Gedanken teilen kann. Wir sind da so ein bisschen Familienersatz und Halt.
Wie bereiten Sie sich auf ihre Dienste vor - speziell jetzt an Weihnachten?
AISTERMANN: Wir achten schon darauf, dass es uns hier gut geht während der Schicht.
GERDENITS: Das ist uns ganz wichtig. Wir haben uns zum Beispiel jetzt abgesprochen, dass wir uns ein leckeres Weihnachtsessen mitbringen, um die telefonfreie Zeit gut zu nutzen.
Was gibt es dieses Jahr?
(beide lachen)
GERDENITS: Heringssalat mit Pellkartoffeln. Das ist schon geplant!
AISTERMANN: Und ich mache einen Nachtisch. Was es gibt, ist aber noch eine Überraschung.
Sie sind dann aber nicht die ganze Nacht wach, oder?
AISTERMANN: Wir haben hier zwei Schlafzimmer, sodass jeder die Möglichkeit hat, sich hinzulegen.
GERDENITS: Also ich beziehe zum Dienstbeginn immer schon mein Bett, weil man ja nie weiß, wie die Nacht wird. Man ist einfach manchmal auch so erschlagen von den Gesprächen, dass man sich ein bisschen ausruhen muss. In der Regel ziehen wir uns also wirklich unseren Schlafanzug an und gehen ins Bett - nur halt mit dem Telefon.
Und wenn das schellt, sind Sie sofort hellwach?
AISTERMANN: Ja. Man schläft natürlich generell auch anders als zuhause. Wenn ich das Telefon höre, bin ich eigentlich ziemlich schnell präsent.
BERKENKAMP: Man bekommt ja auch einen Adrenalinschub. Das Telefon hat einen furchtbaren, lauten Klingelton. (lacht) Ich merke aber sehr schnell, wie ernst der Anruf ist.
GERDENITS: Wenn es eine relativ leichte Gesprächssituation ist, dann mache ich manchmal auch gar nicht das Licht an. Wenn es allerdings brenzlig wird, dann sitze ich sofort aufrecht in meinem Bett, Licht an und dann bin ich hellwach. In solchen Notfällen wecken wir uns meistens auch gegenseitig.
Welche Qualifikationen müssen Menschen mitbringen, die beim Krisendienst unterstützen möchten?
BERKENKAMP: Ganz viele von unseren etwa 35 Mitarbeitern haben eine psychosoziale Ausbildung - das ist aber keine Voraussetzung. Jeder macht ohnehin zu Beginn erstmal Dienste mit erfahrenden Teammitgliedern und wird über ein halbes Jahr lang angeleitet.
Was ist die größte Herausforderung?
BERKENKAMP: Nicht zu wissen, was passiert. Was bringt die Nacht? Wird es kritisch? Man muss auf alles gefasst sein.
AISTERMANN: Vor allem wenn Menschen anrufen, die uns noch nicht bekannt sind. Das ist jedes Mal eine kleine Herausforderung. Man lässt sich auf die Person ein und versucht sie innerhalb kürzester Zeit kennenzulernen und bestmöglich zu unterstützen.
GERDENITS: Zu Beginn war es für mich besonders herausfordernd, dass ich mich passend abgrenze. Einige Anrufer fragen einen selbst auch nach persönlichen Sachen. Da bin ich nicht auskunftsbereit.
Kann man die Gesprächsinhalte wirklich dann nach Dienstende hier lassen und abschalten?
GERDENITS: Es gibt schon Schicksale, die herzzerreißend sind und bei denen man ziemlich stark mitfühlt. Aber ich achte persönlich sehr drauf, dass ich die Sorgen der anderen nicht zu meinen mache und sie - so gut es eben geht - nicht mit nach Hause nehme.
BERKENKAMP: Wir haben auch die Möglichkeit der Supervision. Wenn es Fälle gibt, die sehr belastend waren, dann können die betroffenen Mitarbeiter die Situationen im Nachgang nochmal besonders aufarbeiten. Einmal im Monat treffen wir uns aber ohnehin mit allen Kollegen und da tauschen wir uns auch viel aus.
INFORMATION
Krisendienst für den Kreis Gütersloh
Gütersloh. Den Krisendienst für den Kreis Gütersloh gibt es mittlerweile seit 30 Jahren. Die Mitarbeiter rund um die neue erste Vorsitzende Renate Berkenkamp sind immer dann erreichbar, wenn alle anderen Hilfsinstitutionen geschlossen haben. Besetzt ist das Krisentelefon montags bis freitags zwischen 19 und 7 Uhr; an den Wochenenden und an Feiertagen rund um die Uhr: Tel. 05241 531300.
Das Team besteht aktuell aus knapp 35 Mitarbeitern – das jüngste Mitglied ist übrigens erst 19 Jahre alt. Die Internetadresse des Dienstes hat sich kürzlich geändert: www.krisendienst-gt.org – auch der Kontakt per Mail ist möglich: info@krisendienst-gt.org