Vermisste Jugendliche im Kreis Gütersloh: Es geht um psychische und physische Gewalt

Sie heißen Bushra, Lara oder Melissa und sind oft erst 13 oder 14 Jahre alt. Sie schlagen sich durch, sind alleine unterwegs, weil sie es nicht mehr aushalten oder das Glück irgendwo anders vermuten. Die Zahl der vermissten Jugendlichen, die von der Gütersloher Polizei per Öffentlichkeitsfahndung gesucht werden, steigt auffällig. Die meisten kehren wohlbehalten zurück – die meisten in die Wohngruppen ihrer Jugendhilfeeinrichtungen. Hinter den Fahndungen erstreckt sich eine gesellschaftliche Entwicklung. Allein in NRW ergriffen die Jugendämter im vergangenen Jahr 35,7 Prozent mehr vorläufige Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche als 2021. Die Zahl der Inobhutnahmen im Kreis Gütersloh stieg im gleichen Zeitraum von 105 auf 142 Fälle. Zwar gibt es eine hohe Zahl an unbegleiteten Minderjährigen aus dem Ausland, eine Besonderheit sind jedoch die zahlreichen Selbstmeldungen. In Deutschland haben Kinder und Jugendliche das Recht, selbst um eine Inobhutnahme durch das Jugendamt zu bitten. &bdquo;Und hier ist der Anstieg schon auffällig“, sagt Ilona Overath, Leiterin der Abteilung Jugend beim Kreisjugendamt Gütersloh. &bdquo;Das betrifft vor allem Jugendliche, die sich entweder über ihre Schule oder tatsächlich auch direkt an uns wenden.“ Es geht um psychische und physische Gewalt. Werfen Sie hier einen Blick auf die Kriminalstatistik Ein Blick auf die Kriminalstatistik des vergangenen Jahres zeigt: 101 Kinder wurden Opfer eines Tötungsdelikts. Der weit überwiegende Teil der getöteten Kinder war jünger als sechs Jahre. Pro Tag werden 48 Kinder Opfer sexueller Gewalt – konkret waren esim vorigen Jahr 17.437. Die Zahl der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch betrug 15.520. Die Zahl der unentdeckten Fälle ist mutmaßlich viel höher. Größtes Problem in OWL ist vielerorts die Versorgung der in Obhut genommenen Kinder und Jugendlichen, egal ob reguläre Fälle oder unbegleiteter Minderjähriger. &bdquo;Die Situation ist dramatisch“, sagt Anke Berkemeyer vom Jugendamt Bielefeld. Auch Ilona Overath ist in Sorge: &bdquo;Ich höre jetzt schon von Fällen in NRW, wo Kinder in Büros der Ämter schlafen müssen, weil es keine Einrichtung und auch keine Bereitschaftspflegefamilie für sie gibt.“ Auch im Kreis Gütersloh sei man stark unterbesetzt. &bdquo;Zuletzt haben wir erst auf Rügen einen Platz für einen Jugendlichen in Obhut gefunden. Zahlreiche Familien im Kreis Gütersloh implodieren Das Verhalten der Kinder steht immer am Ende der Reaktionskette. Will man deren Entwicklung verstehen, gilt es auf die Eltern und deren Probleme zu schauen. Einen Zustand von &bdquo;akuter Erschöpfung“ attestieren Forscher der Nation. &bdquo;Wir erkennen jetzt erst im vollen Umfang, wie ungeheuer kräftezehrend die drei Corona-Jahre gewesen sind”, sagt der bekannte Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, der kürzlich die Trendstudie &bdquo;Jugend in Deutschland” mitveröffentlicht hat. Nach der Pandemie hätte man unbedingt erstmal eine längere Erholungsphase gebraucht. Doch stattdessen wurde Corona unmittelbar von dem nicht enden wollenden Krieg Russlands gegen die Ukraine abgelöst, verbunden mit Inflation und starken Fluchtbewegungen. Der beherrschende Eindruck ist: Immer wieder kommt etwas dazwischen, das man selbst nicht beeinflussen kann. &bdquo;Dadurch leidet gleichsam die ganze Gesellschaft an einer posttraumatischen Belastungsstörung”, konstatiert Hurrelmann in dieser Woche. Nach einer repräsentativen Studie des Rheingold-Instituts mit 1.000 Befragten und 35 tiefenpsychologischen Interviews ziehen sich die Deutschen als Reaktion auf die Krisenkaskade mehr und mehr ins Private zurück. Demnach dominiert ein &bdquo;diffuses Grundgefühl der Bedrohung und Endzeitstimmung”. Fazit: Zahlreiche Familien implodieren. Jugendliche von heute haben in ihrem Leben schon viel erlebt Sie haben alle schon viel mitgemacht, die heute 14-Jährigen – und die Bushras, Laras oder Melissas sowieso. Das gilt für Corona, den Ukraine-Krieg und erst recht für den Klimawandel. An ein Leben ohne Krise können sich viele Jugendliche nicht mehr erinnern. Und wenn am Montag die Schule wieder losgeht, kommt für viele die nächste Misere obendrauf. Sozialforscher fordern wieder mehr gemeinsame, positive Ziele. Ein bisschen Aufbruchsstimmung müsse her. Das klingt einfacher als es ist. Was also tun? Montag startet die &bdquo;Woche der kleinen Künste“ auf dem Dreiecksplatz. Auf ein paar Quadratmeter Innenstadt kann Gütersloh ein paar Abende lang verschnaufen. Das ist nun wahrlich keine Lösung. Aber ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.

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