Radikaler Umbruch: Evangelische Gemeinde gibt vier Kirchen in Gütersloh ab

Gütersloh. Die evangelische Kirche steht in Gütersloh vor einem radikalen Umbruch. Das Presbyterium hat in seiner Klausur entschieden, Schwerpunkte zu setzen und dafür anderes wegfallen zu lassen. Im Ergebnis führt das dazu, dass sich die Zahl der Kirchen bis 2032 mehr als halbiert und auf drei schrumpfen wird. Vier Kirchen gibt die Gemeinde ab, darunter mit der Apostelkirche die Keimzelle christlichen Lebens in Gütersloh. Außerdem trennt sich die Gemeinde von der Kirche Zum Guten Hirten (Kahlertstraße) und von der Johanneskirche (Pavenstädter Weg). Die Evangeliumskirche (Brockhäger Straße/Auf der Benkert), bis vor kurzem von einem Förderverein kirchennah genutzt, steht schon länger auf der Streichliste, sie wird möglicherweise zu einem Kolumbarium, einer Aufbewahrungsstätte für Urnen. &bdquo;Uns ist bewusst, dass diese Entscheidung für viele Menschen schmerzlich ist“, sagt Pfarrer und Presbyteriumsvorsitzender Stefan Salzmann. Es werde Begleitung und Trauerarbeit nötig sein. Zielmarke ist und bleibe das Jahr 2032. Was zu welchem Zeitpunkt aus den Gebäuden werde, wie die Übergänge gestaltet werden – das werde &bdquo;in einer Umsetzungsphase sorgfältig und im Dialog mit den Betroffenen erarbeitet“. Eine Beteiligung aus der Stadtgesellschaft sei erwünscht. Einnahmen aus Kirchensteuer gehen stark zurück Dass die Ressourcen der Gemeinde nicht mehr ausreichen, um weiterzumachen wie bisher, war Anlass für den vor zwei Jahren begonnenen "Zukunftsprozess". Der Druck ist gewaltig, personell wie finanziell. Hatte die Gemeinde bis Sommer noch neun Pfarrstellen, so ist deren Zahl inzwischen auf sechs geschrumpft, um in den Folgejahren bis auf drei zu sinken. Auch die Einnahmen aus der Kirchensteuer gehen stark zurück: In zehn Jahren, so eine grobe Kalkulation, könnten sie um 300.000 auf 850.000 Euro gesunken sein. &bdquo;Statt uns in ständigem Rückzug zu erschöpfen, haben wir uns entschieden, künftig Schwerpunkte zu setzen“, so Salzmann. &bdquo;Das, was wir machen, möchten wir gut und mit ausreichender Ausstattung tun. Dafür müssen wir anderes sein lassen. Das schafft Freiräume für einen kirchlichen Neuaufbruch.“ Künftig also, spätestens ab 2032, wird die Gemeinde nur noch drei Kirchenorte unterhalten: Martin-Luther-Kirche, Matthäuskirche (Auf der Haar), Erlöserkirche (An der Erlöserkapelle). Den Schwerpunkt an der Martin-Luther-Kirche werden die Stadtkirchenarbeit (samt Veranstaltungen) und die Musik bilden. Die Matthäuskirche konzentriert sich auf die Familienarbeit, die Erlöserkirche (in Verbindung mit dem CVJM-Haus an der Moltkestraße) auf die Konfi- und Jugendarbeit. An diesen Orten, so die Hoffnung, soll sich &bdquo;selbstorganisiert weiteres kirchliches Leben, Gruppen und Initiativen andocken.“ Die Aufteilung in Gemeinderegionen fällt weg, es bleibe aber bei einer Zuordnung von Pfarrern in Seelsorgebezirken. Kooperation mit anderen Religionen ausdrücklich erwünscht Salzmann versteht den Presbyteriums-Beschluss als Chance für &bdquo;einen Neuaufbruch in der Bewegung zu den Menschen“. Die Gemeinde wolle Initiativen kirchlichen Lebens in den Stadtteilen unterstützen. &bdquo;Orte dafür können Kindergärten, Schulen, Vereinsheime und andere Häuser sein. Eine Kooperation mit anderen Konfessionen, Religionen und Initiativen ist ausdrücklich erwünscht.“ Dass die Mitwirkung Ehrenamtlicher schon jetzt ein Wesenskern der Gemeindearbeit ist, sei zwar richtig, sagt Presbyterin Susanna Matt-Windel. "Aber es macht einen Unterschied, ob das einfach so passiert oder ob das auch aus der Struktur deutlich wird." Der Presbyteriumsbeschluss markiert eine klare Linie für den Kurs der evangelischen Kirche in Gütersloh. Unter dem Motto &bdquo;Mit leichtem Gepäck mutig sein“ hatte die Gemeinde zwei Jahre darüber beraten. Sich gegen ein Rasenmähermodell und gegen eine Regionen-Lösung zu entscheiden und stattdessen auf ein Fokus-Modell zu setzen, um diesen Beschluss sei hart gerungen worden, so Salzmann, aber letztlich habe es dafür eine breite, fast einstimmige Mehrheit gegeben. Was wird künftig aus der Apostelkirche? Auf die Apostelkirche zu verzichten, diese Tendenz habe sich durch die Rückmeldungen im Laufe des Jahres ergeben, so Matt-Windel. &bdquo;Es wurde immer mehr deutlich, dass es nicht zu vermitteln ist, beide Innenstadtkirchen zu erhalten“, sagte sie. Die Gemeindezentren Matthäus und Erlöser seien multifunktional, sie böten mit ihrer räumlichen Aufteilung, ihrer Bestuhlung und ihrer Ausstattung viel mehr Möglichkeiten, sie vielseitig und für das Fokus-Modell zu nutzen. Das Presbyterium sei in einer Sitzung Mitte August deutlich darüber informiert worden, dass zu den potenziellen Szenarien auch der Verzicht auf die Apostelkirche gehöre. &bdquo;Wir haben da jetzt am Wochenende nichts aus dem Hut gezaubert“, betont Salzmann. Was aus der Apostelkirche künftig werde, liege nun an der Bürgern, der Stadtgesellschaft. &bdquo;Jetzt ist Gütersloh gefragt“, so Salzmann. Durchaus, so Kirchmeister Friedhelm Reichert, sei es denkbar, den Beschluss zu erweitern, zu ergänzen. &bdquo;Sollte sich jemand finden, der uns die finanzielle Belastung abnimmt, seien es die Katholiken oder andere, warum nicht?“ Kritik an der Entscheidung In der Tat rührt sich schon Kritik. &bdquo;Dieser Beschluss ist ein Hammer“, sagen Bärbel und Ullrich Felchner, die mit ihrem &bdquo;Förderverein Historische Kirchen im Stadtzentrum Gütersloh“ 18 Jahre lang, von 1998 bis 2016, die beiden Innenstadtkirchen mit geistlichem und kulturellem Leben füllten. &bdquo;Wir spüren nicht nur Enttäuschung, sondern auch aufsteigende Wut. Wir haben in unserer Region Mitte/West innerhalb weniger Wochen drei Pfarrer verloren, und jetzt nimmt man uns auch noch die Kirche? Da stellt sich die Frage, was löst das bei den Gemeindemitgliedern aus?“ Ihnen gehe es nicht darum, böses Blut zu schaffen, &bdquo;sondern einen Weg zu finden, die Apostelkirche für die evangelische Gemeinde zu erhalten“, sagt Bärbel Felchner. Sollte es unmöglich sein, den Beschluss zu revidieren, müsse das Presbyterium ihn um Formulierungen und Detailregelungen erweitern, die von einer Komplettaufgabe der Apostelkirche abrücken. &bdquo;Eine gemeinsame Nutzung mit den Katholiken, mit der afrikanischen Gemeinde, mit anderen Gemeinden, irgendetwas muss möglich sein“, so Bärbel Felchner. &bdquo;Es darf nicht sein, dass dieser historische Ort Güterslohs 2032 einfach abgeschlossen wird und vor sich hin verrottet.“ Den Eheleuten Felchner, mittlerweile Mitte 80, war es mit ihrem Förderverein gelungen, 850.000 Euro Spenden für den Erhalt und das Bespielen von Apostel- und Martin-Luther-Kirche zu sammeln. Folgen weitere Kirchenaustritte? Innerhalb der Kirchenregionen ist der Beschluss umstritten. Der Bezirksausschuss der Region Mitte-West hatte sich im Sommer zu den Umstrukturierungsmodellen positioniert. Die Apostelkirche sei ein &bdquo;wichtiger Identifikationspunkt“, was nicht zuletzt an ihrer Beliebtheit als Kirche für Trauungen deutlich werde. &bdquo;Sie ist der Ursprung christlicher Gemeinden in Gütersloh, sie wird mit dem umgebenden Kirchplatz von der Gütersloher Öffentlichkeit als Ausgangspunkt der städtischen Entwicklung wahrgenommen. Eine Aufgabe dieses Ursprungsortes christlichen Lebens dürfte der Gemeinde kaum zu vermitteln sein und weitere Kirchenaustritte zur Folge haben.“ Mit der Aufgabe der Apostelkirche, der Evangeliumskirche, der Kirche Zum Guten Hirten und der Johanneskirche bleibe in den gesamten Regionen Nord und Mitte-West keine &bdquo;Alltagskirche“ mehr erhalten, so die Kritik des Bezirksausschusses. Dirk Stockamp, Vorsitzender dieses Ausschusses und Mitglied des Presbyteriums, erklärte, er halte die Standort-Entscheidung für falsch. &bdquo;Sie ist nicht ausgewogen und gibt eine Hälfte unserer Gemeinde quasi auf.“ Ihm falle es schwer, unter diesen Voraussetzungen weiter an der Zukunft der Gemeinde mitzuarbeiten und werde daher sein Amt im Presbyterium vorerst ruhen lassen. Dass Protestanten und Katholiken einander näher rücken, hatte sich in Gütersloh schon kürzlich gezeigt: Als Reaktion auf die enormen Energiekostensteigerung prüfen sie, kurzfristig diesen Winter Gebäude gemeinsam zu nutzen.

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