30 Berufe auf der Kippe: Wir tragen alle Schuld an der Situation!

Gütersloh. Matthias Stüve und Gerrit Imkemeyer ziehen die Notbremse. Sie schließen den Restaurantbetrieb im &bdquo;Buchenkrug“ vormals Gerry Weber Landhotel. Die Küche bleibt kalt weil der Personalnotstand den Betreibern keine andere Wahl lässt. Das Problem ist der Fachkräftemangel. &bdquo;Die Aushilfen bekommt man ja noch, aber uns fehlen die Leute, die beispielsweise den Tagesabschluss machen können“, sagt Stüve. Der Buchenkrug ist kein Einzelfall. Namhafte Gastronomen und Traditionsgaststätten in Gütersloh und Umgebung stehen vor dem Aus. Es werden in Kürze weitere Namen folgen. Es ist ein Dilemma. &bdquo;Man kommt sich manchmal vor wie eine Restetruhe“, sagt Bernhard Horstmann. Er ist Ausbilder und Geschäftsführer der Horstmann-Freise GmbH in Rietberg. Er ist 53 Jahre alt und ein Nachfolger für den 100 Jahre alten Betrieb ist weit und breit nicht in Sicht. Die Firma war schon Ausbildungsbetrieb des Jahres im Arbeitsamtsbezirk und bei der Auftragslage gibt es nach eigenem Bekunden eine Vorlaufzeit von neun Monaten. Trotzdem scheint der Berufszweig so unsexy, dass bei jungen Menschen kein Interesse vorliegt. &bdquo;Das Handwerk hat auch Leute mit einem guten mittleren Schulabschluss verdient. Wir sollen uns mit den unteren 20 Prozent des Bildungsniveaus zufrieden geben.“ Mehr Feststellung als Klage von Bernhard Horstmann. In Industriebetrieben wird mehr verdient. Auch für ihn ist es ein Dilemma. Das wird unser Leben in den nächsten Jahren auf den Kopf stellen Wo sind sie plötzlich alle hin, die Menschen, die bis vor der Pandemie dafür sorgten, dass augenscheinlich alles reibungslos lief? Klar ist der Fachkräftemangel schon lange Thema, Demografiewandel sowieso, aber die Plakate und Zettel mit Aufschriften wie &bdquo;Komm in unser Team!“, &bdquo;Wir suchen Dich!“ oder &bdquo;Heute wegen Personalnot ab 15 Uhr geschlossen“ sind derart üppig geworden, dass wahrlich niemand mehr darüber hinwegsehen kann. Volle Auftragsbücher aber keine Leute, die die Arbeit erledigen können – wann hatten wir das zuletzt? 30 Berufsgruppen mit besonders deutlichen Fachkräfteengpässen hat die Agentur für Arbeit im Kreis Gütersloh identifiziert. 30! Das wird unser aller Leben in den nächsten Jahren auf den Kopf stellen. Manch einer hofft, dass Zuwanderung die Probleme lösen könnte. Ein Irrtum. Lesen Sie auch: Lage im Kreis Gütersloh spitzt sich zu - wo sind die Arbeitskräfte hin? Hand aufs Herz: Würden Sie Ihren Job noch einmal wählen? Hand aufs Herz: Müssten Sie sich heute als junger Mensch entscheiden, würden Sie Ihren Beruf noch einmal wählen, oder war es ohnehin keine freie Entscheidung? Und was würden Sie Ihren Kindern raten? Vermutlich das Falsche. Eltern sind wichtige Ratgeber, liegen aber oft daneben wie die Kreishandwerkerschaft behauptet. &bdquo;Sie beraten mit dem Erfahrungshorizont ihrer eigenen Berufswahl auf dem Stand von vor 20 Jahren“, sagt Geschäftsführer Alexander Kostka. Es geht um die Frage: Was kann ich? Was will ich eigentlich im Beruf und welcher ist der richtige für mich? &bdquo;Die Antwort ist nicht Abitur und Studium, sondern individuell zu suchen.“ Kostka macht die Gymnasien und Gesamtschulen mitverantwortlich. Schulen, die zum Abitur führen, hätten nicht das Interesse, so zu beraten, dass die Hälfte der Schüler nach der 10. Klasse abgeht und einen Ausbildungsberuf einschlägt. &bdquo;Schulabgänger sind oft uninformiert.“ Fachabi geht auch mit Ausbildung. Zu wenig Lehrpersonal an Schulen Schulen täten sicher gut daran, ihre Modelle zur beruflichen Orientierung zu überdenken. Allen voran die Gymnasien. Ist ein dreiwöchiges Praktikum in Klasse 9 wirklich zielführend oder wären nicht vielleicht drei einwöchige Praktika viel besser, um unterschiedliche Einblicke zu erlangen? Aber wer soll das organisieren und betreuen? Rafaela Kellermann ist Klassenlehrerin einer dritten Klasse: &bdquo;Ich habe 27 Schüler in der Klasse, darunter zwei ohne Migrationshintergrund, 13 verschiedene Herkunftssprachen, sechs Kinder aus Flüchtlingsfamilien, die zum Teil hochbelastet sind. Viele Kinder kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen – vier Familien werden durch das Jugendamt begleitet. Ich bin in der Regel allein in der Klasse und habe das Gefühl, ich werde nicht mehr jedem gerecht.“ Diese Schilderung galt in dieser Woche der neuen Schulministerin, die am Donnerstag ihren Antrittsbesuch im Kreis Gütersloh hatte. Dorothee Feller hat genickt. &bdquo;Ich will nicht drumherumreden. Wir haben eindeutig zu wenig Lehrpersonal an Schulen.“ Rente mit 70 ist keine Lösung Wir stecken also alle miteinander in einem riesengroßen Dilemma. Den Finger auf den anderen zu richten mit dem Vorwurf &bdquo;Der ist Schuld“ hilft nicht. Wir tragen alle Schuld an der Situation. Wir finanzieren unseren Kindern freudestrahlend ein Medizinstudium, in dem Bewusstsein, dass es ihnen damit im Leben gut geht – blenden aber aus, dass ein Viertel aller Ärzte über einen Berufsausstieg nachdenkt, 40 Prozent über Überforderung klagt. Die Zahlen hat der Marburger Bund diese Woche veröffentlicht. Wir müssen unsere Arbeitswelt neu denken. Eine Mammutaufgabe für das Land und einen Wirtschaftsstandort wie Gütersloh, die aber keinen Aufschub mehr duldet. Rente mit 70 ist keine Lösung, die 42-Stunden-Woche schon gar nicht. Die Lokalpolitik könnte den Aufschlag machen und zur Arbeitsgruppe laden, um lokale Handlungsfelder auszuloten. Aber bitte nicht mit den immer gleichen Namen am runden Tisch. Albert Einstein hat es schon vor vielen Jahren auf den Punkt gebracht: &bdquo;Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

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